Dracyr – Das Herz der Schatten
gelogen, sie sagte die reine Wahrheit. Der Mann, den sie am Flussufer traf, mit dem sie sich heftig stritt, den sie stehen lieà und vor dem sie davonlief⦠er ist ihr Bruder. Bradan Devrillan, der Verräter, Königstreuer, Aufrührer und Anführer von Rebellen. Er lebt und wirkt, spinnt seine Ränke, spannt seine eigene Schwester für seine düsteren Machenschaften ein. Es ist kein Wunder, dass sie so aufgewühlt, so zornig und so voller Angst war.
Damian schüttelt den Kopf, zerrissen zwischen Wut über ihren Verrat und Stolz darauf, wie tapfer sie sich ihm gestellt hat. Sie muss ihn so sehr hassen, wie sie ihn fürchtet, aber dennoch wagt sie es, ihm nah zu sein, ihn zu berühren, ihm zärtlich zu begegnen. Was für eine Schauspielkunst, welche Kühnheit! Er beiÃt die Zähne aufeinander, atmet tief und langsam. Er muss sie bestrafen, wie sie es für ihren Verrat verdient. Das will er nicht seinem Vater überlassen. Kay gehört ihm.
Er schrickt zusammen. Lord Harrynkar hat ihn angesprochen, mehrmals sogar, und er war zu sehr in Gedanken versunken, um darauf zu reagieren. Er weicht unwillkürlich zurück, will sein Gesicht mit den Händen schützen, aber im letzten Augenblick unterlässt er die verräterische Geste.
» Vater? « , sagt er beherrscht. » Verzeiht mir, ich habe über das morgige Manöver nachgedacht. «
Er hält dem brennenden Blick stand und nach einer Weile nickt sein Vater und legt seine Hand auf Damians Schulter. » Was wolltest du mir mitteilen? « , fragt er. Sie erreichen die Turmtreppe, und das verschafft Damian erneut eine kleine Atempause, in der er seine Gedanken ordnet. Oben angekommen folgt er seinem Vater ins Turmgemach und wartet, bis dieser sich ein Glas Wein eingeschenkt und in dem Sessel am Westfenster niedergelassen hat. Lord Harrynkar nippt an der blutroten Flüssigkeit und schweigt. Dann hebt er den Blick, lächelt und sagt: » Ich bin ungastlich. Möchtest du ein Glas Wein mit mir trinken, mein Sohn? «
Damian nickt verblüfft und findet sich wenig später in einem Sessel, den er ebenfalls ans Westfenster gerückt hat, und mit einem Glas in der Hand. Er ist auf der Hut. Sein Vater ist niemals ohne Grund freundlich zu ihm.
Er trinkt und tupft sich einen Tropfen Wein von der Lippe. Er mag eigentlich keinen Wein, und er befürchtet, seinen klaren Kopf zu verlieren, wenn er mehr von dem schweren Getränk zu sich nimmt. Deshalb räuspert er sich und stellt das Glas neben sich ab, will etwas über das morgige Manöver sagen, denn das muss er tun, immerhin hat er behauptet, etwas Wichtiges besprechen zu wollen. Aber noch während er dazu ansetzt, spürt er den ungeduldigen Druck von Lord Harrynkars Geist. Sein Vater scheint jede Unwahrheit wittern zu können, und seine Unduldsamkeit erlaubt es nicht, dass sein Gegenüber zuerst einmal stotternd und stammelnd von einer Ausflucht in die nächste taumelt. Er greift mit seiner gesamten geistigen Macht unbarmherzig zu und quetscht die Wahrheit aus dir heraus. Damian würgt, versucht sich zu widersetzen, aber sein Wille zersplittert wie dünnes Glas unter der Wucht des Zugriffs.
» Ich bin Kay Devrillan heute zum Fluss gefolgt « , hört er sich sagen. Verrat gegen Verrat, denkt er, während er das aufflackernde Interesse im Mienenspiel seines Vaters erkennt. Der Gedanke hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Dann berichtet er, hilflos und zornig, was er beobachtet hat, wiederholt Kays Erklärung und seine Gedanken dazu. Während er redet, ist er sich der brütenden Gegenwart des Dracyrmeisters in seinem Inneren bewusst. Wie ein dräuendes Gewitter füllt sie das Turmzimmer mit einer schweren, drückenden Atmosphäre.
Damian beendet seinen Bericht, befeuchtet die trockenen Lippen mit einem winzigen Schluck Wein, dessen schweres Bouquet ihn mit einem Mal anekelt, und wartet. Der unbarmherzige Druck, der ihn zum Sprechen gezwungen hat, weicht von ihm und lässt ihn schwach und voller Selbsthass zurück.
Lord Harrynkar hat die Finger vor den Lippen zusammengelegt und tippt nachdenklich mit den Zeigefingern gegen seine Zähne. » Was denkst du « , fragt er unvermittelt, » was haben die Rebellen vor? Wozu haben sie das Mädchen in Wirklichkeit hier eingeschleust? « Er lacht kurz und trocken auf. » Wohl kaum, um mich mit einem Obstmesser anzugreifen. «
Damian nickt, ohne
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