Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
einen Spalt weit und sah die Menschen, die vorbeigingen, ohne auf die Tür zu achten. Amee nahm die Flasche mit dem Schlaftrunk, vergewisserte sich, daß der Dolch noch im Stiefelschaft steckte, und verließ das Haus. Eine gedrückte Stimmung, Furcht und Unsicherheit beherrschten die ganze Stadt.
Während sie gebückt an den Häusermauern entlangschlurfte, schnappte sie Gesprächsfetzen auf.
»Sie wollen den Schrein zerschlagen …«, flüsterte hinter ihr ein alter Mann und hinkte weiter. Ein eisiger Schrecken durchfuhr Amee.
An der nächsten Ecke stand ein Dunkler Wächter. Er redete auf eine Gruppe Frauen, Halbwüchsige und Gassenjungen ein.
»Dann wird der Gott die Fieberpest von uns nehmen. Auch der schlafende Gott wird nicht helfen können. Der Götze wird das Opfer gern sehen und Regen schicken. Regen für Urgor!«
»Sie ist noch ein Kind! Sie wollen ein Kind opfern!« sagte eine Frau, auf deren Arm ein Säugling schlief.
Zwei Männer der Garde kamen Amee entgegen. Als sie unter einer Fackel vorbeigingen, die am Haus eines Bäckers steckte, sah Amee ihre Gesichter und erkannte sie. Die Prinzessin zuckte zusammen und blieb zögernd stehen. Die Soldaten stießen sich an, einer faßte nach Amees Arm.
»Laß doch die Alte!« rief der andere und grinste. »Zu häßlich!«
Der Soldat griff nach Amees Kinn. Sie drehte den Kopf und versuchte, unter seinem Arm hindurchzutauchen. Der Soldat griff nach ihr und rief lachend: »He! Für ihr Alter ist sie noch sehr flink! Ich krieg’ dich schon, mein Täubchen!«
Amee fühlte den Griff des Dolches in ihrer Hand. Sie zog den Arm hoch und preßte ihn dicht an ihren Körper. Die Soldaten standen mit ausgebreiteten Armen sprungbereit da und lachten laut. Ein paar Umstehende drückten sich, wandten die Gesichter ab und gingen eilig weiter. Als sich der Soldat auf Amee stürzte und sie mit den Armen zu umschlingen versuchte, stach sie ihm tief in den Oberarm. Der Mann brüllte auf wie ein Stier.
Während er rückwärts stolperte, hob Amee eine Handvoll Sand auf und warf sie ihm ins Gesicht. Bevor einer der anderen reagieren konnte, verschwand sie in der Dunkelheit der Gasse. Hinter sich hörte sie Rufe, Gelächter und die Flüche der verräterischen Palastsoldaten.
Eine Gasse weiter verlangsamte sie den Schritt und nahm den schlurfenden Gang wieder auf. Ohne weitere Widrigkeiten erreichte sie den Platz vor dem Gefängnis.
Dort löste sie den Knoten ihres Haares und ließ die Haarflut auf die Schultern fallen. Die Kapuze fiel nach hinten. Mit einem Tuchzipfel wischte Amee sich die meiste Schminke aus dem Gesicht. Dann veränderte sie ihre Haltung. Sie ging plötzlich übertrieben gerade und schwang ihre Hüften herausfordernd, als der Eingang des Gefängnisses vor ihr lag.
Achmad wischte über seine Lippen und rülpste. Er fuhr über das stachelige Kinn und schob den Schemel zur Seite. So konnte er besser aus der halboffenen Tür auf den Platz hinausblicken. Alles schien auf den Beinen zu sein: die ganze verdammte Stadt. Nur er mußte hier hocken und Wache schieben. Achmad nahm den Weinkrug, hob ihn mit beiden Händen hoch und trank. Dünne Rinnsale liefen aus den Mundwinkeln und tropften auf seine Knie. Plötzlich wurde sein Blick starr. Er hörte auf zu schlucken und sah nach draußen.
Er setzte den Krug ab und brummte verwundert: »Ob sie das Freudenhaus verbrannt haben?«
Zwanzig Schritt vor ihm stand eine Frau. Sie schien offensichtlich betrunken. Sie stieß auf und ging geziert weiter. Sie kam direkt auf ihn zu. Achmad lehnte sich gegen die Wand und grinste. Er sagte laut: »Hierher, Schwester! Hier gibt es mehr Wein!«
Sie hob den Kopf und lächelte ihn breit an. Er fühlte, wie sein Atem schneller ging. Sie blieb vor ihm stehen und fragte mit undeutlicher Stimme: »Du hascht … Wein, Bruder?«
»Für dich habe ich noch mehr!« sagte er. Er fand in seinen Taschen einen kümmerlichen Kupferling.
Sie lallte: »Hascht du Geld?«
»Geld und Wein!« sagte er lachend.
»Viel Wein?«
»Genug für uns!« erwiderte Achmad.
Sie hielt sich am Tor fest, schwankte und stolperte hindurch. Er stand auf und erwartete sie. Die Hände hielt er an den Schlaufen des Gürtels. Ein gieriges Lächeln kam in sein Gesicht.
Sie atmete schwer und sagte heiser: »Getrunken hab’ ich schon, Bruder. Aber zum Wein gehört ein richtiger Kerl!«
Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust und rief: »Ein Kerl wie ich! Komm her, Schwester! Hier ist es dunkel und
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