Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
Rändern einer grünen, länglichen Senke ragten weiße, kalkige Felsen in die Höhe. Das Sonnenlicht, das von ihnen zurückgestrahlt wurde, ermüdete die Augen von Reitern und Tieren.
Eine gute Stunde folgten sie dem Tal, dann schlossen sich die Felsen wieder, und plötzlich roch es nach Bäumen, nach Wasser und nach Pflanzen, die am Rand von Tümpeln oder Wasserläufen wuchsen. Partho sah sich um, blickte zum Himmel. Dann hielt er auf ein kleines Wäldchen zu. Jetzt erkannte er deutlich die Stelle wieder – es war der Hain des Hexers.
»Dort finden wir Wasser und Gras für die Tiere und einen guten Platz für unsere Zelte. Ich sehe nach, ob jemand am Lagerplatz ist.«
Amee und Dragon, eng nebeneinander reitend, folgten ihm in scharfem Galopp. Partho stob zwischen den Bäumen dahin und entdeckte schließlich das Haus des seltsamen Mannes, den er vor Jahren kennengelernt hatte. Es befand sich zwischen den vielen Baumstämmen, die dicht am Rand eines kleinen, dunklen Tümpels wuchsen. Alles sah unbeschreiblich verfallen und verwildert aus; Schlingpflanzen rankten sich um die Leiter, die vom Haus ins Wasser führte.
Partho ritt einen weiten Kreis durch das Wäldchen. Alles war still und verlassen. Er kehrte zu dem Platz vor dem Baumhaus zurück, wo die anderen inzwischen eingetroffen waren.
»Bleiben wir hier, Partho?« fragte Amee.
»Ich denke, es ist der beste Platz!« gab er zurück.
»Wohnt dort jemand?« erkundigte sich Agrion und deutete auf das Baumhaus.
Partho löste den Helm und rammte den Schaft der Lanze in den Boden. »Als ich als Junge eine Patrouille begleitete, die hier Rast machte, bewohnte es ein Hexer. Einer, der die Wege sieht, noch bevor man sie gegangen ist. Aber das ist eine Weile her. Er war ein alter Mann.«
Partho glitt aus dem Sattel und führte sein Pferd an einen Baum. Dort band er den Zügel fest und winkte seinen beiden Männern. Afkral und Sondart verstanden und begannen die Packpferde zu entladen.
»Du willst dort hinauf?« fragte Agrion und kam langsam auf Partho zu. Er blickte in ihr besorgtes Gesicht und glaubte, dort einen Ausdruck zu entdecken, den er noch nie zuvor gesehen hatte.
»Es ist besser, wenn ich nachsehe. Leere Häuser beherbergen manchmal ungebetene Gäste.«
Agrion nickte und sah zu, wie Hauptmann Partho die morsche Leiter hinaufkletterte. Die Sprossen knirschten besorgniserregend unter seinen Sohlen. Partho hielt auf halber Höhe inne und lauschte. Da waren nur die Geräusche der Gefährten von unten, die das Lager aufschlugen. Die weißen und roten Blüten der Wasserpflanzen erfüllten die Luft mit einem süßlichen Duft. Er kletterte wachsam weiter.
Ein stechender Geruch schlug ihm entgegen, als er den Kopf in die Höhe des Einganges schob. Dann hörte er die schweren Atemzüge. Er schwang sich auf einen der weit ausladenden Äste. Dann zog er das Schwert und beugte sich vorsichtig über die dunkle Öffnung des Einganges.
»Hexer!« flüsterte er.
Ein undeutliches Murmeln antwortete ihm. Partho verlagerte sein Gewicht und glitt, weniger lautlos, als ihm lieb war, ins Innere. Er streckte die Klinge in Gesichtshöhe vor sich, verhielt mit angehaltenem Atem und versuchte, die keuchende Gestalt auszumachen. Seine Augen brauchten einen Augenblick, sich auf das Halbdunkel einzustellen.
»Hier … hier …«, sagte jemand schwach.
Partho fuhr herum. Sein Blick fiel auf einen kleinen Vampir, der mit vier silbernen Nägeln an die Balken des Baumhauses genagelt war. Das Wesen war seit langer Zeit tot. Fast genau darunter befand sich ein stinkendes Lager aus verrotteten Fellen und Lumpen.
Darauf lag ein Skelett. Ein lebendes Skelett, wie Partho erkannte, als er sich darüberbeugte. Er ließ sich auf die Knie nieder.
»Hexer? Was ist mit dir geschehen?«
Der Schädel, einem Totenkopf weitaus ähnlicher als dem Kopf eines Lebenden, bewegte sich. Kleine, stechende Augen blickten in das erschrockene Gesicht des jungen Hauptmanns. Partho spürte, wie ein Schauder über seine Haut jagte. Wächserne Lider senkten sich über die Augen. Ein Mund voller wackliger Zähne öffnete sich, und blutleere Lippen flüsterten krächzend:
»Ich habe … Vampir getötet. Sie kamen und saugten mein Blut. Immer und immer wieder. Ich muß sterben … Hütet euch vor den Vampiren!«
Partho zog seinen Handschuh aus und legte die rechte Hand leicht auf den Unterarm des sterbenden Wege-Sehers. Die Haut war rauh und rissig wie altes Pergament und spannte sich straff über die
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