Dragon 01: Der Schrein des schlafenden Gottes
versuchte. Er hielt die Zügel des zweiten Pferdes ganz kurz. Im Zickzack stoben sie durch die Schlucht, unter den überhängenden Felsen hindurch. Hinter ihnen prasselten Steinschläge zu Tal.
Die Natur um sie herum schien in Panik zu geraten.
Ein kleines Rudel Steinböcke sprang am oberen Ende der Schlucht wie besessen zwischen den Felsen hin und her. Die älteren Tiere gaben erschreckte Laute von sich. Vögel in den Zweigen flatterten auf. Sand und Schutt rieselten von den Felsenbrücken auf die beiden Reiter herab.
»Dragon!«
Cnossos fluchte leise. Das Mädchen war entschieden zu früh aufgewacht. Er zügelte sein Pferd und ließ es im Schritt weitergehen.
»Ja«, antwortete er kurz.
Es war noch zu dunkel, um deutliche Einzelheiten erkennen zu können.
»Warum bin ich gefesselt? Wo sind wir – warum sind wir nicht mehr in Zainus Lager?« fragte sie und zerrte an ihren Fesseln.
Cnossos hielt die Tiere an und sprang aus dem Sattel. Er versank halb im Kies des Schluchtbodens und ging langsam hinüber zu dem anderen Pferd. Er löste schweigend die Lederschnüre und half Amee aus dem Sattel.
»Es ist etwas Furchtbares geschehen!« sagte er leise und versuchte, seine Stimme der Stimme Dragons ähnlich zu machen.
Sie hielt sich am Sattel fest und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Das Amulett, Dragon!« stieß sie hervor.
Er winkte schweigend ab. »Das ist unwichtig«, behauptete er leise. »Ein ganzes Heer von Vampiren hat das Lager überfallen. Ich glaube, daß niemand dort oben überlebt hat. Niemand.«
Sie blickte ihn an, starr vor Schreck. Cnossos sah im schwachen Licht in ihr Gesicht. Sie war tatsächlich schön. Er hob die Schultern und wandte sich ab, als wolle er seinen Zustand verbergen.
»Vampire!« sagte er düster. »Ich erwachte gerade, als sie sich auf Menschen und Tiere stürzten. Ich konnte dich nicht wecken, also hob ich dich auf und fing zwei durchgehende Pferde ein. Wir konnten flüchten, ohne daß sie unser Blut tranken. Wir mußten alle Freunde und alles, was wir haben, zurücklassen.«
Er war noch immer nicht sicher, was er mit ihr anfangen sollte. Er würde sie in seine Felsenburg bringen, das stand für ihn fest. Als eine Leibsklavin? Es gab Mittel und Wege, sie gefügig zu machen.
Sie griff nach seinen Armen und schüttelte ihn. Voller Schmerz und Schrecken rief sie: »Ada! Partho und die anderen … Sie können nicht alle tot sein!«
Cnossos sagte mit dumpfer Stimme: »Sie sind tot. Und wenn wir nicht in großer Eile weiterreiten, werden auch wir sterben müssen. Die Vampire riechen, wenn sie einmal ausgeschwärmt sind, frisches Blut einen halben Tagesritt weit!«
»Wohin?« fragte Amee atemlos.
Sie blickte hinauf zum Himmel, sah aber nur die bewachsenen Felswände und die ziehenden Wolken. Sie wußte nicht, was sie von alledem halten sollte, aber sie vertraute Dragon, dem Mann, den sie liebte. Alle anderen tot, auch Zainu, der Häuptling der Söhne Nuaks. Ada! Ihre Schwester! Tot.
Sie zerrte am Arm des Mannes und rief: »Wir müssen zurück! Wir müssen versuchen, ihnen zu helfen!«
Dragon schüttelte den Kopf und bekannte: »Wir kommen nicht weit! Was vermögen wir zwei gegen Tausende der Ungeheuer?«
Auch Amee begriff, daß sie keine Chance hatten. Sie griff nach einem Strohhalm.
»Wo ist dein Amulett? Du hättest mit Hilfe dieses Sonnenamuletts mit den Vampiren sprechen können, ohne daß du die Lippen bewegst! Warum hast du das Amulett nicht mitgenommen?«
Er sagte entschuldigend, mit unbewegtem Gesichtsausdruck: »Das Amulett hilft nicht gegen Vampire. Ich kann mit ihnen nicht in der Alten Sprache reden. Es sind keine …« Er brach ab.
Dann hob er sie in den Sattel und sagte: »Wir müssen nach Urgor und dort eine Truppe ausrüsten. Und zwar so schnell wie möglich!«
Sie schwieg und starrte ihn an. Er benahm sich seltsam; lag wieder der Nebel des langen Schlafes um seinen Verstand? Sie konnte es noch immer nicht fassen, daß alle Freunde tot waren und daß auch Ada, ihre Schwester, den Tod unter den Zähnen der Blutsauger gefunden hatte.
War es richtig, nach Urgor zu reiten? Wollten sie dorthin, kamen sie an Marathas Furt vorbei – Amee würde zu der seltsamen Frau gehen und sie um Hilfe bitten.
Dragon rief leise und drängend: »Wir müssen weiter. Schnell!«
Er warf ihr den Zügel des Pferdes zu und stieg in den Sattel. Es war noch immer Nacht; hinter den treibenden Wolkenbänken zeichnete sich im Osten ein ungewisses Licht ab. Jetzt kamen sie in den
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