Drahtzieher - Knobels siebter Fall
Spuren dieser Tat quasi umgekehrt zu deuten habe: Wesentlich war, was scheinbar unangetastet blieb. Tatsächlich waren die durchwühlten Schubladen, die aus den Schränken gezerrte Wäsche, die umhergeworfenen Bücher lediglich bloße Kulisse. Stammte die unter dem 16. Dezember vorgenommene Eintragung wirklich von der Person, die in der Nacht vom 7. auf den 8. März in Liekes Wohnung eingedrungen war, stellte sich die Frage, was der Täter damit bezweckte. Sollte es sich um einen Hinweis handeln, der für die Klärung der Umstände ihres Todes von Bedeutung war, lief er Gefahr, dass dieser Wink nicht bemerkt wurde. Warum hielt er sich versteckt, und warum gab er derartige Rätsel auf, wenn er seine Botschaft doch deutlicher und sicherer übermitteln konnte? Und schließlich: Konnte ein Ereignis am 16. Dezember überhaupt für Liekes Tod von Bedeutung sein, der zu diesem Zeitpunkt schon über drei Monate zurücklag?
Marie rief Anne van Eyck an und stellte ihr diese Fragen. Doch die Mandantin wusste keine Antworten. Sie schwieg, als Marie geendet hatte.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte Marie.
Anne van Eyck zögerte. »Einerseits kommt die Sache nun in Gang«, meinte sie nachdenklich, »andererseits kann das eigentlich nichts mit meiner Schwester zu tun haben. Einen Herrn Drauschner hat sie nie erwähnt, auch keine Villa Wolff.«
»Die Kalendernotiz stammt ja offensichtlich auch nicht von Ihrer Schwester«, beruhigte Marie. »Aber sie sollte ihr zugeordnet werden. Allein daraus ergeben sich interessante Rückschlüsse.«
»Mir macht die Sache Angst«, gestand Anne van Eyck, schluckte und sammelte sich. »Aber es könnte in der Tat eine Spur sein. – Machen Sie also unbedingt weiter«, forderte sie fest. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Frau Schwarz, und natürlich auch Herrn Knobel. Grüßen Sie ihn von mir!«
5
Die Villa Wolff war schnell gefunden. Es handelte sich um den großzügigen, aus dem Jahr 1938 stammenden früheren Wohnsitz der Industriellenfamilie Wolff. Das Anwesen lag unmittelbar neben dem früher familieneigenen und heute einem amerikanischen Konzern gehörenden Werk im niedersächsischen Bomlitz, unweit von Walsrode in der Lüneburger Heide. Die Villa hatte ihre ursprüngliche Funktion lange verloren und diente seit einigen Jahren als Gästehaus, gepachtet von dem Kaufmann Sascha Sadowski, der in dem früheren herrschaftlichen Wohn- und Kaminzimmer stilvolle Feiern für Gesellschaften ausrichtete und seine Gäste mit ausgesuchten Speisen und Weinen beköstigte. Stephan hatte die Villa auf Anhieb im Internet gefunden, und eine telefonische Nachfrage beim Pächter ergab, dass am 16. Dezember des letzten Jahres tatsächlich ein Herr Drauschner das Kaminzimmer gebucht und für sechs Personen ein gediegenes Menü bestellt hatte. Herr Sadowski wusste von diesem Ereignis, ohne dass er im Kalender nachsehen musste, und konnte Stephans verwunderte Nachfrage sogleich beantworten: Zu dem aufwendig vorbereiteten Abendessen war außer Herrn Drauschner überraschenderweise niemand erschienen.
Stephan verabredete sich mit Sascha Sadowski vor Ort für den nächsten Vormittag.
Bomlitz lag etwa acht Kilometer von dem beschaulichen Walsrode entfernt, eingesäumt von ausgedehnten Wäldern und Feldern, die nicht vermuten ließen, dass man bei der Einfahrt in den Ort plötzlich auf eine größere Industriekulisse stieß, die zu der ländlichen weiten Umgebung in Widerspruch stand und sich etwas in einer Senke zu verstecken schien. Aus einigen Kaminen entströmte weißer Rauch, der sich in bauchigen Fahnen verlor. Die Fabrik arbeitete und war nach wie vor bedeutendster Arbeitgeber in der Region, doch sah man weder auf der Straße noch auf dem Werksgelände Menschen. Bomlitz schlief außerhalb der Zeiten des Schichtwechsels. Am Rande dieses Ortes, gelegen an der schmalen Landstraße nach Kroge, die rechts am Werksgelände vorbeiführte, fand sich als letztes Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite die Villa Wolff, eine großzügige, aber nicht protzige Anlage im Architekturstil der 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Es fehlten prunkvolle Verzierungen und Schnörkel, doch die Ausmaße des klar strukturierten Hauses, die geräumige Zufahrt zu dem auf einer kleinen Anhöhe gelegenen Gebäude und der große Platz vor dem Eingang, auf dem Dutzende von Autos geparkt werden konnten, demonstrierten noch immer Macht und Anspruch der früheren Bewohner, die hier in Sichtweite ihres kleinen Imperiums residiert und den Erfolg ihres
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