Drahtzieher - Knobels siebter Fall
er die Inaugurationsfeier von Barack Obama mit einem Quartett und einem von John Williams komponierten Stück begleitet. Wanninger hatte alle diese Informationen dem Internetportal Wikipedia entnommen und sie auswendig gelernt. Ihn interessierten weder der Künstler noch sein Werk, aber er wollte gewappnet sein, wenn er Small Talk führen und sich zum Schein interessiert zeigen musste.
Gisbert Wanninger hatte am frühen Nachmittag aus seiner Wohnung das eleganteste Kleidungsstück geholt, das er besaß: einen maßgeschneiderten anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug. Er hatte den Anzug schon vor Jahren anfertigen lassen. Damals war er auf dem Höhepunkt seines journalistischen Schaffens, verdiente satt, und der ständig wiederkehrende Geldsegen aus seinen in diversen Magazinen abgedruckten Artikeln ließ ihn Dinge kaufen, die er bis dahin nicht für nötig oder interessant gehalten hatte. Plötzlich hatte er sich für solche Sachen interessiert, die Statuszeichen für Macht und Wohlstand waren und die er sich hart erarbeitet hatte. Auch der Anzug gehörte zu diesen Dingen. Er hatte ihn nur zu außergewöhnlichen Anlässen getragen, insbesondere anlässlich der Gala, in deren Rahmen ihm vor sieben Jahren eine Medaille für unerschrockenen Journalismus verliehen worden war. Seither hatte der Anzug fast durchgehend im Schrank gehangen. Er passte auch nicht mehr so wie in früherer Zeit. Wanninger war deutlich fülliger als früher. Hose und Jackett zwängten.
Er war seit dem frühen Nachmittag nervös durch die Innenstadt gelaufen, nachdem er sein Auto in der Nähe des Konzerthauses im Innenhof eines Geschäftshauses abgestellt hatte, dessen Inhaber er seinen Parkplatz für den Rest des Tages mit stolzen 30 Euro abgekauft hatte. Wanninger wollte einen Standplatz, von dem er bei Bedarf schnell in alle Richtungen davonfahren konnte. Im Auto befand sich seine Reisetasche mit dem Notwendigsten, um ein paar Tage untertauchen zu können, des Weiteren die anonymen Briefe und der Audioguide, der keiner war. Die Tasche hatte Wanninger im Kofferraum unter einer Plane und seinen Laptop unter dem Beifahrersitz versteckt, und danach mehrfach kontrolliert, ob auch alle Türen seines Autos abgeschlossen waren. Wanninger hatte zwischendurch in einem Schnellimbiss gesessen, in dem er ein sehniges Schnitzel und fettige Pommes frites gegessen hatte, die ihn aufstoßen ließen. Er hatte daraufhin eine Flasche mit einem halben Liter kohlensäurefreiem Mineralwasser in einem Zug geleert und sich dann auferlegt, bis zur Aufführung keine weitere Nahrung aufzunehmen. Er wollte fit bleiben.
Ab 18.30 Uhr saß Wanninger im Stravinski, dem im Erdgeschoss des Konzerthauses gelegenen Restaurant, das in seinem modern eleganten und gleichzeitig nüchternen Stil demjenigen des Konzerthauses entsprach. Wanninger nippte geduldig an dem georderten Orangensaft. In seinem Anzug hatte er eine kleine Digitalkamera versteckt, bereit, Begegnungen zwischen Personen zu fotografieren, die verdächtig erschienen. Wanninger hatte keine Angst. Er wähnte sich sicher, wenn er unter Menschen blieb. Von seinem Platz im Stravinski konnte er das Foyer vollständig mit seinem Blick erfassen, von den gläsernen Eingangstüren bis zur Empfangstheke und der Garderobe sowie den Zugangsbereichen zu den Toiletten. Zeitgleich mit ihm waren die ersten Gäste erschienen, von denen sich einige untereinander offensichtlich flüchtig kannten. Es waren Besitzer von Dauerkarten, die einen Großteil des kulturellen Programms wahrnahmen und wegen der verlässlichen Einnahmen aus dem Abonnementverkauf der häufig defizitären Finanzlage des Hauses guttaten. Man war festlich gekleidet. Etliche der Frauen trugen Abendkleider und feinen Schmuck. Wanninger betrachtete aufmerksam die nun immer zahlreicher werdenden Gäste, unter denen sich auch eine Vielzahl von Chinesen befand. Der Journalist witterte hinter jedem aus Fernost stammenden Mann denjenigen, der auf dem an der Autobahn geschossenen Foto in der Mitte abgelichtet war. Er verglich alle mit dem Asiaten auf dem Bild, das er unter dem Tisch verborgen in Händen hielt.
Kurz nach halb acht Uhr kam Bewegung in die Sache. Dr. Fyhre, der Vorstandsvorsitzende von ThyssenKrupp, erschien mit seiner Gattin im Foyer. Der Journalist hatte Dr. Fyhre bis dahin nie persönlich gesehen, aber er erkannte ihn sofort und ohne jeden Zweifel. Wanninger hatte bebilderte Artikel über ihn gelesen und ihn auch unter einer Kolumne mit seiner Gattin
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