Drahtzieher - Knobels siebter Fall
Sorten- und dem Kohlenturm. Wanninger hatte Stephan erzählt, dass im Bereich der Türme auf ihn geschossen worden sei, und Ylberi nahm diesen Bereich flüchtig in Augenschein. Das fragliche Gebiet war zu groß und zu unübersichtlich, als dass sich ohne eingehende Untersuchung feststellen ließ, ob es hier tatsächlich zu einem Schuss gekommen war. Die Backsteinwände der Türme waren vom Zahn der Zeit gezeichnet und wiesen diverse Schadstellen auf, sodass sie ein mögliches Einschussloch gut kaschierten. Am Fuße der Türme wucherten Birken aus einem stattlich sprießenden Gestrüpp. Der sich verstärkende Regen nahm jede Chance, hier zielgerichtet und schnell fündig zu werden. Denkbar war auch, dass der Schuss an den Wänden vorbei in die angrenzenden Bereiche ging, in denen ein Gewirr von rostigen Rohren, Unkraut und Gebüsch jede Spurensuche erschwerte. Ohne Zweifel hatte der Täter den Tatort geschickt ausgesucht. Der Staatsanwalt ging zur Pforte zurück. Der Regen trieb in feinen Schleiern über die alten Ofenbatterien. Die rostigen Anlagen blieben stumme Zeugen einer vergangenen Zeit und trotzten der sie umwuchernden Natur, aus der sie wie stählerne Skulpturen herausragten.
Die Frau im Infopunkt hatte gezählt und einen Kaffee für Ylberi gemacht.
»37 Euro in Münzen«, sagte sie und schob dem Staatsanwalt Kassette und Kaffee über die Theke. Sie lächelte unsicher.
Ylberi zückte kleine Plastiktüten aus seinem Koffer und entnahm der Kassette mit einer Pinzette Münze für Münze, die er jeweils in gesonderte Tüten steckte. Danach gab er ihr den gleichen Betrag aus seiner eigenen Geldbörse.
»Wo kann der Täter hin sein, wenn er nicht durch das Tor die Kokerei verließ?«
Er ließ sich erklären, dass das Gelände nach hinten nicht eingezäunt war und man sowohl von der parallel zur Kokerei verlaufenden Bahnstrecke als auch nördlich über das anschließende Geländer der alten Benzolfabrik ungehindert verschwinden könne.
Ylberi packte seine Sachen zusammen und nahm seinen Kaffee.
»Wir werden heute das Gelände noch sehr genau untersuchen. Offizielle Lesart wird sein, dass von einem Besucher Schüsse wahrgenommen wurden, die mutmaßlich von jemandem abgefeuert worden sind, der auf das Gelände eingedrungen ist. Sie werden bitte bis dahin dafür sorgen, dass kein Besucher auf die Schwarze Straße geht.«
Ylberi sah die Frau augenzwinkernd an.
»Haben wir uns verstanden?«, fragte er.
Sie nickte dankbar.
23
Wanninger war bis halb drei in der Nacht mit seinem Auto ziellos umhergefahren. Die Straßen waren menschenleer gewesen. Er hatte nicht einmal Nachtschwärmer gesehen, die träge ihren Weg nach Hause suchten. In den Nächten zwischen normalen Werktagen herrschte eine fast bedrückende Stille. Etwa um eins hatte es wieder zu regnen begonnen. Der zugleich aufbrausende Wind hatte Blätter aus den dichten Laubkronen der an den Straßen stehenden Ahornbäume auf die Fahrbahn gewirbelt. Wanninger hatte das Schauspiel beobachtet, während er langsam durch die Straßen fuhr. Der Scheibenwischer schmierte anfangs und kämpfte gegen den Staub und Schmutz an, der sich auf der Windschutzscheibe abgesetzt hatte. Wanninger war wiederholt an dem Haus in der Plauener Straße vorbeigefahren, in dessen Dachgeschoss er sein Büro hatte, und er war ebenso oft durch die Chemnitzer Straße gefahren, in deren oberem Abschnitt seine Wohnung lag. Ihm war nichts Verdächtiges aufgefallen, aber er wusste, dass man ihn im Visier hatte. Um halb drei schließlich hatte er sich doch in seine Wohnung gewagt, die Tür nicht nur, wie er es immer tat, von innen verschlossen und den Sperrriegel umgelegt, sondern auch noch einen kleinen Aktenschrank aus dem Flur vor die Tür geschoben. Er wusste, dass dieser Schrank ihn im Zweifel nicht schützen würde, aber ihn beruhigte das Gefühl, eine Barrikade errichtet zu haben. Er legte sich angezogen auf das Bett. Die Schwüle der vergangenen Tage lastete noch bleiern in seiner Wohnung, doch er wagte weder, sich zu entkleiden, noch eines der Fenster zu öffnen, weil die Wohnung sowohl an der Vorder-, als auch an der Hinterfront des Hauses über durchgehende Balkone verfügte, über die man ungehindert einsteigen konnte. Als Wanninger die Wohnung angemietet hatte, gefielen ihm die mit kunstvollen schmiedeeisernen Geländern gesicherten Balkone, die Pariser Charme verbreiteten. Wanninger wollte eine Wohnung, aus der er in das ihn umgebende Leben lauschen und zu den Nachbarn gehen
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