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Dreck: Roman (German Edition)

Dreck: Roman (German Edition)

Titel: Dreck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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musste begreifen, dass sie nicht über ihn verfügen konnte. Oder die Illusion von ihr musste das begreifen, oder er musste begreifen, dass die Illusion von ihr keine Macht über ihn hatte; oder so ähnlich. Das war alles sehr verwirrend. Jedenfalls musste er ihre Bindung zu ihm lösen, weil sie ihn aufhielt. Und seine Tante musste begreifen, dass sie von ihren Eltern befreit war, dass ihr Leben ihr gehörte. Wenn doch nur alle Gibran begreifen würden, gäbe es so viel weniger Leiden.
    Es war schwer, in einer Familie jüngerer Seelen zu leben. Galen war eine alte Seele, nahe der Transzendenz, im Begriff, seine letzte und schwierigste Lektion zu lernen, seine endgültige Loslösung von Familie, aber die Übrigen fingen gerade erst an. Sie wussten nicht mal, dass sie überhaupt auf dem Weg waren. Sie wussten nicht, dass der Weg existierte, und es war ermüdend, sie aufwecken und mitziehen zu wollen. Es war ein Dienst, den Galen ihnen erweisen musste, eine Selbstlosigkeit, ebenso eine der letzten Lektionen. Momentan jedoch fühlte er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen.
    Er ließ das Buch auf die Brust sinken und sah sich im Lampenschein in dem kleinen Zimmer um. Die schräge Decke, das nackte Holz, die vertikalen Wandbretter, dunkelbraun gestrichen. Er fragte sich, ob er vielleicht auch ein Prophet war. Vielleicht war das seine Rolle.
    Jesus war ein Prophet gewesen. Ein gewöhnlicher Mensch, ein Zimmermann, doch eine alte Seele, bereit, anderen die Augen zu öffnen.
    Galen mochte dieses Zimmer, einen Ort, in dem er sich auf sich selbst besinnen konnte. Das ließ sich das restliche Jahr über leicht vergessen, da Samsara an ihm arbeitete. Doch dieses Zimmer wirkte gerade zu klein. Galen spürte, dass er kurz davor war, etwas zu lernen. Er spürte, wie sich seine Seele ausdehnte.
    Also stand er auf, zog Jeans, ein Sweatshirt und Stiefel an, denn draußen würde es kalt sein, in den Bergen nachts war es immer kalt. Er versuchte, die Treppe hinunterzuschleichen, aber die Stufen knarrten, und er wusste nicht, wohin er sich wenden sollte. Ging er nach links, musste er an seiner Tante und Jennifer vorbei, um zur Vordertür hinauszukommen. Ging er nach rechts, musste er an seiner Mutter und Großmutter vorbei, die am Küchentisch saßen. Er wollte weder in die eine noch in die andere Richtung. Er wollte eine dritte Tür, doch genau die bot das Leben nicht, und vielleicht war das gut so. So werden wir herausgefordert, so werden wir gezwungen, unsere Lektionen zu lernen.
    Galen ging nach links, weil er nicht noch einmal mit seiner Mutter und Großmutter in dieser Küche sein konnte.
    Jennifer und Helen auf dem Ausziehbett, unbequem angelehnt. Zwischen Matratze und Rückenteil klaffte eine große Lücke, weshalb ein Kissen als Stütze nicht hielt. Sie würden einen Knick im Hals bekommen.
    Lass mich raten, sagte Helen. Du wurdest gerufen von Vater Granit, um die Kieselsteine zu Felsen umzusingen?
    Galen ging hinaus, ohne sie zu beachten. Schnell die Treppe hinunter auf den Feldweg, die Piniennadeln. Klare, kalte Luft, der Geruch von Holzrauch, alles mit Mondlicht getüncht.
    »Ihr werdet sehen, wie Er in den Blumen lächelt, aufsteigt und aus den Bäumen winkt.« Gibran hatte recht. Galen musste nur sehen lernen, fühlen lernen. Das Muster des Mondlichts, gefiltert durch die Bäume. Alles um ihn her eine Präsenz und ein Zeichen. Der Bodhisattva in allen Dingen. Der Buddha in jedem Fels und jedem Baum. Jede Piniennadel besser als eine Kirche.
    Galen blieb stehen und spürte den Bodenkontakt, zog Stiefel und Socken aus, konzentrierte sich darauf, leichter zu werden. Ließ die Energie der Erde durch seine Sohlen sickern. Er setzte sich wieder in Bewegung, versuchteaber, es absichtslos geschehen zu lassen, versuchte, sich authentisch zu bewegen, versuchte, sanft aufzutreten, ohne darüber nachzudenken. Authentische Bewegung lernte er gerade. In der Nähe des Hauses seiner Großeltern gab es einen New-Age-Buchladen, zu dem er jahrelang nach der Schule gegangen war, aber sie hatten ihn aufgefordert, nicht wiederzukommen, sprachen von Belästigung, obwohl er doch nur seine Aura auf eine junge Angestellte ausgerichtet hatte. Sie war eine jüngere Seele, reizend, aber ängstlich, verblendet. Er hatte ihr helfen wollen. Die Ausrichtung funktionierte am besten, wenn er dicht hinter ihr stand und die Arme ausstreckte, aber das gefiel ihr nicht. Es machte ihn immer noch wütend, ein Gefühl, das er eigentlich loslassen wollte. Er durfte

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