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Dreck: Roman (German Edition)

Dreck: Roman (German Edition)

Titel: Dreck: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vann
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ebenfalls den Blick. Seine Tante aß auch wieder. Und Galen begriff, dass er gerade zum ersten Mal geschlagen worden war, dass aber alle anderen in diesem Raum schon häufig geschlagen worden waren. Vielleicht mit Ausnahme seiner Mutter, die aber Zeugin gewesen war, genauso häufig.
    Galens Schulter pochte, aber er bemühte sich, ein paar Happen Auflauf zu essen. Er hörte das Feuer im Ofen, knackende Kohlen. Er hörte Kauen und Schlucken, nass und verstärkt. Er schmeckte Salz.
    Tja, sagte er. So sind wir wohl.
    Magst du noch Auflauf, Mom?, fragte seine Mutter.
    Danke, gern. Er schmeckt sehr gut.
    Galens Mutter füllte demonstrativ den Teller, hob den Löffel in die Höhe. Morgen essen wir Hühnchen, Mom. Das wird so lecker.
    Galen erkannte in seiner Mutter die Wiederherstellerin der Welten. Das war ihre Rolle. Wenn alles auseinanderfiel, kam sie und brachte die Zeit wieder zum Laufen.
    Morgen können wir einen Spaziergang in Camp Sacramento machen, sagte sie.
    Ach, das wird schön, sagte seine Großmutter.
    Ich warte immer noch auf eine Antwort, Mom, sagte Helen.
    Magst du einen Wein, Mom?, fragte Galens Mutter.
    Ja, bitte.
    Galens Mutter stand auf und drehte sich zur Anrichte neben dem Ofen um. In diesem Raum war kein Platz. Alle fünf eng beieinander an drei Seiten eines winzigen alten Tisches, der an die Wand montiert war und von einem gelben Plastiktischtuch bedeckt wurde. Die Wände aus schiefen, weiß gestrichenen Brettern. Eine einzige nackte Glühbirne mit Kette. Ausgeblichenes braunes Linoleum auf dem Fußboden. Der Ofen wie eine Verbrennungsanlage. Alle Gesichter schweißnass.
    Galens Mutter kehrte mit einer Flasche Weißwein zurück, Riesling, und der Geruch versetzte Galen sofort zurück. Sie schenkte sich und ihrer Mutter ein und bot sonst niemandem etwas an. Die beiden tranken und aßen, während Galen und die Mafia zusahen und Galen sich fragte, wieso sie hier alle zusammen waren.
    Warum machen wir hier eigentlich auf Familie?, fragte er. Was haben wir davon?
    Seufzend leerte Galens Mutter ihren Wein, schenkte sich nach. Galens Großmutter starrte gleichsam staunend in ihr Glas. Sie hatte es, beinahe leer, gleich neben demTeller abgesetzt und ließ es, den Stiel zwischen zwei Fingern, sanft kreisen, die Handfläche nach unten, als würde sie damit etwas besprechen, als wäre der Tisch ein Spiegel und der Wein darauf so etwas wie ein goldener Schlüssel. Sie sah gebannt aus, die Augen feucht und groß, die Lippen leicht in Bewegung, als spräche sie eine Beschwörungsformel, etwas Archaisches, etwas, das die Übrigen nicht verstanden. Sie wirkte, als wollte sie etwas verkünden, deshalb waren die anderen still.
    Die nackte Birne und ihr grelles Licht erweckten den Eindruck, als müsste man seine Großmutter, wollte man sie entfernen, aus dem Stoff der Welt schneiden, worauf ein Loch übrig bliebe. Alle wirkten sie so auf Galen, als wären sie zweidimensional, flach, montiert. Jennifer noch immer mit verschränkten Armen, reglos, starr. Seine Mutter mit ungeahnt tiefen Furchen um den Mund, als wären die Lippen losgelöst vom restlichen Gesicht, hinzugefügt. Die Augen in zu großen Höhlen vergraben. Die Wellen ihres Haars modelliert und unverbunden. Sie sah fabriziert aus, zusammengeschustert, erfunden.
    Galen spürte, wie unwirklich sie war, spürte es zum ersten Mal direkt und unwiderlegbar. Sie setzte erneut ihr Glas an, doch selbst diese Bewegung wirkte marionettenhaft. Die Welt gleichsam mit einer Ratsche festgezogen, jedes Einzelteil unter Spannung, und alles drohte zu reißen.
    Galen wollte weg. Er wollte weg von diesem Tisch. Dieser Tisch fühlte sich gefährlich an. Er begriff jetzt, dass seine Familie von Gewalt zusammengehalten wurde. Aber er war hier gefangen, an seinem Platz festgeklebt,konnte sich nicht rühren. Er konnte nur zusehen, und die einzigen Bewegungen waren das Glas seiner Mutter und das Glas seiner Großmutter und ihre Handfläche, die langsame Kreise zog, und das flackernde Licht.

 
 

 

 
    G alen las Khalil Gibrans Der Prophet , jenes Buch, das ihm am meisten bedeutete und in das er sich vertiefte, wenn seine Bindung zur Welt überhandnahm.
 
    Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
    Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
    Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
    Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
 
    Das war die Wahrheit, das wusste Galen. Er war größer als seine Mutter, zu Höherem bestimmt. Sie

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