Drei Irre Unterm Flachdach
rührte weder die Bibel noch die vierzig Bände an. Warum Lenins Thesen neben den Zehn Geboten im Bücherregal standen, blieb sein G e heimnis.
Als ich älter war, wurde mir die Büchersammlung nützlich. Fast alles, was wir im Literaturunterricht behandelten, fand sich darin. Fontanes »Effi Briest«, Storms »Schi m melreiter«, Friedrich Wolfs »Professor Mamlock«, Anna Seghers’ »Siebtes Kreuz«, He r mann Kants »Dritter Nagel«, Dieter Nolls »Abenteuer des Werner Holt« oder Nikolai Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde«. Die antifaschistische und soziali s tische Literatur nahm viel Platz in Anspruch. Wenn man von der Bibel mal absah, besaßen wir ein vorbildlich sortiertes DDR-Bücherregal.
Im Deutschunterricht war ich die einzige, die immer den Finger hob und ve r kündete: »Natürlich haben wir das!« Das brachte mir Pluspunkte bei der Lehrerin und Minuspunkte bei den Mi t schülern ein.
Als ich Schauspielerin werden wollte, halfen mir die alten Reclam-Bändchen mit Theaterstücken. Auch sie hatte Großvater g e sammelt, vermutlich während seiner Zeit am Schweriner Staatstheater. An Vo r sprechtexten fehlte es also nicht. Das Beste waren die beiden Stanislawskis. Ein roter und ein blauer Band, berühmte Standardwerke: »Die Arbeit des Scha u spielers an sich selbst« und »Die Arbeit des Schauspielers an der Rolle«. Da stand alles drin, was ich wissen mu ß te, um eine gute Schauspielerin zu werden. Sätze wie »Auf der Bühne darf man nicht sinnlos herumrennen« oder »Auf der Bühne darf man nicht allgemein ha n deln um des Handelns willen, sondern das Handeln muß begründet, zweckm ä ßig und produktiv sein« waren logisch, sinnvoll und leicht zu ve r stehen. Auch war ständig die Rede vom Einfü h len in eine Figur. Und mich einfühlen, das konnte ich mit links.
Brecht gab es nicht in Gustavs Bibliothek, außer einer kleinen, in Hartpappe gebundenen Ausgabe der »Kalenderg e schichten«. Der kleine Band war lieblos zwischen Heinrich Heine und das Hausbuch deutscher Lyrik g e quetscht, als hätte er sich im Regal geirrt. Als ich nach Großmutters Tod die vielen Bücher erbte, dachte ich zum ersten Mal darüber nach. Wieso hatte der kommunistische Scha u spieler Gustav Voss nicht mehr Bücher von Brecht besessen?
Und es gab keine einzige Zeile von Stalin. Ich kann mich nicht erinnern, jemals auch nur den N a men aus Großvaters Mund gehört zu haben. Vielleicht hatte er früher mal Stalin-Bücher gehabt, sie dann aber aussortiert, auf den Müll g e worfen, für immer aus dem Gedäch t nis gestrichen? Später stellte sich raus, daß er natürlich alles von Stalin gehabt hatte. Aber er hatte die Bände nicht weggewo r fen. Die gesammelten Werke ruhten sanft in einem großen Holzkasten im Keller, gleich neben der Kiste mit den »Neuen Deutschlands«. Von Brecht war auch im Keller keine Spur.
Die Bibel hatte ich einmal aus dem Regal genommen, um u n serm Westbesuch zu imponieren. Wir Kinder schliefen auf knarrenden Campingliegen im Büche r zimmer, und mein Cousin Carsten prahlte mit seinen Leg o steinen. Er ging mir schon den ganzen Tag auf die Nerven damit. Auf Zehenspitzen, mit der Tasche n lampe in der Hand, schlich ich zum Bücherregal und zerrte die Bibel hervor. Wie erwartet machten die Goldschnittseiten Eindruck auf Carsten. Er sa g te, so ein dickes Buch mit Gold an den Rändern habe er noch nie gesehen. Überhaupt hä t ten seine Eltern nicht so viele Bücher wie wir und mit Goldrand nicht ein einz i ges. Dann las ich Carsten aus der Bibel vor.
»Ihr blöden Kröten! Das ist für Kinder verboten! Was da drin steht, ist gefäh r lich!« Großvater kam ins Zimmer gestürzt und riß mir das Buch aus den Händen. Dann tra m pelte er mit der Heiligen Schrift unterm Arm zurück ins Wohnzimmer.
Kurz darauf wurde es draußen laut. Wir krochen aus den Betten und lauschten an der Tür. Die Pforzheimer Verwand t schaft stritt mit Gustav. Tante Edda und Onkel Walter verstanden nicht, warum es für Kinder schädlich sein sollte, in der Bibel zu lesen. Onkel Walter meinte, daß es großartig sei, wenn wir es freiwillig täten. »Die ostdeutschen Jugendlichen haben doch mangels Rel i gionsunterricht gar kein Verhältnis zur Bibel, zum christlichen Glauben! Was, Gustav? Da kann das ja wohl nicht schaden!« Onkel Walter hatte Obe r wasser. Er war so richtig in Fahrt. Endlich konnte er auch mal was sagen, was Hand und Fuß hatte. Aber Großvater war gewappnet. »Als junger Mensch muß man erst
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