Drei Irre Unterm Flachdach
mal einen gefesti g ten Klassenstandpunkt haben, bevor man sich mit so fra g würdigen Dingen wie Religion und Glauben beschäftigen darf. Relig i on, mein Lieber, ist Opium für das Volk!«
Carsten flüsterte: »Was ist Opium? Und was ist ein Klassenstammpunkt?« Er sagte tatsächlich »Stammpunkt«, das Dummerchen aus Pfor z heim. Ich flüsterte zurück: »Opium ist ein Schnaps, und ein Klassenstan d punkt ist, wenn man wie mein Großvater ganz fest an den Kommunismus glaubt.« »Und dann hat er so ’ne dicke Bibel? Der spinnt ja!«
Familie Kammersä n ger
Manja, die Tochter von Kammersänger Stummel, war bis zur vie r ten Klasse meine beste Freundin. Sie hatte blonde Locken und eine Stupsnase und war, im Gege n satz zu mir, in der Vorschule gewesen. Stummels hatten einen schwarzen Ko n zertflügel, auf dem Manja und ihr Bruder Sören vorbildlich spielten, sogar vie r händig. Herr Stummel benutzte den Flügel auch. Er schmetterte Arien, wä h rend seine rechte Hand auf dem glänzenden Lack des Deckels ruhte.
Bei uns stand ein verstimmtes braunes Klavier. Ich klimperte manchmal drauf rum oder begleitete Großmutter, wenn sie alte Schlager plärrte. Ohne Zweifel waren Stummels was Besseres.
Morgens holte ich Manja von zu Hause ab, und wir gingen zusammen zur Schule. Ich drückte auf den blankgeputzten go l denen Klingelknopf, ganz kurz nur, denn ich hatte Angst, Stummels bei der Kunst zu stören. Von Mutter wußte ich, daß Künstler viel üben mußten, und Stummels fingen sicher schon um si e ben damit an. Außerdem traute ich mich sowieso kaum, die Klingel zu berühren, so sehr glänzte der goldene Knopf in der Morgensonne. Unser Klingelknopf glänzte nicht, denn er war aus Plaste. Wenn man draufdrückte, bekam man einen Schlag. Großvater hatte die Klingelanlage, genau wie unsere Fenster, mit Aluminiumfolie verkle i det. Irgend etwas leitete.
Bei Stummels öffnete mir Manjas Mutter. Sie hatte dünne, ausgefranste Ha a re, die eng am Kopf anlagen, so, als hätte sie Butter reingeschmiert. Hinter einer riesigen Brille mit dicken Gläsern rollten hektisch die Augäpfel hin und her. I m mer wenn ich sie ansah, mußte ich an meine Glasmurmeln denken, aber die w a ren schöner.
Frau Stummel sah nicht gesund aus. Nach kurzer Musterung stieß sie mich kreischend vor sich her ins Haus. Ihrer Me i nung nach war ich für die Jahreszeit falsch gekleidet. Sie zerrte eine Wollstrumpfhose aus Manjas Schrank und befahl mir, sie anz u ziehen: »Bist du so ein dummes Mädchen? Bei diesem Wetter zieht man doch keine Kniestrümpfe an! Hat dich dein Großvater wieder so losg e schickt?« Frau Stummels schrilles Geleier machte Kop f schmerzen, und Manjas Strumpfhose reichte bis unter die Ac h seln. Ein anderes Mal riß mir Frau Stummel meine Hose runter und stülpte mir einen Minirock über. Auch er war mir viel zu groß. Sie zurrte ihn mit einem alten Ledergürtel an meiner Taille fest, damit ich ihn nicht verlor. Diesmal war ich gerade noch vor einem Hitzschlag bewahrt worden. »Bei dem Wetter sooo dicke Hoo o sen!« Der Singsang klang mir noch den ganzen Weg im Ohr.
Ein halbes Jahr später lag Manja mit einer Hirnhauten t zündung im Kranke n haus. Frau Kammersänger hatte sie im Winter mit na s sen Haaren auf die Straße gehen lassen.
Die morgendlichen Umziehaktionen machten mir nichts aus. Es war gut zu wissen, daß es nicht nur in meiner Familie Verrückte gab. Und auch Manja schien nicht unter ihrer Mutter zu leiden: »Is eigentlich ganz okay, die olle Schrulle«, sagte sie beiläufig.
Auf dem Schulweg stänkerte Manja rum: »Iii, du hast ja Spi n nenfinger! Haste die von deinem Opa?« Ich sah meine Hände an. Die Finger w a ren überhaupt nicht dünn, höchstens bißchen kurz. Großvater hatte keine Spinnenfinger, seine Hände waren schön! Blöde Kuh, dachte ich und sagte: »Und deine Mutter knetet sich Butter in die Haare!« Dann stritten wir, wer die größeren Macken habe, Großvater oder Frau Stummel. Manja erklärte, ihre Mutter habe einen Tumor im Kopf und sei deshalb so hysterisch. »Aber mein Opa war fünf Jahre im KZ. Finde ich viel schlimmer als ’nen Tumor im Kopf«, konterte ich, worauf Manja meinte: »Na und? KZ is vorbei, aber der Tumor is immer noch da!«
Hakenkreuze
Eines Tages sahen Manja und ich auf Schlüters Gartenmauer ein weißes Hake n kreuz. Mit einem dicken Pinsel aufgetragen, glänzte es wie Stummels Klingelknopf in der Mo r gensonne. Gestern war es noch nicht dagewesen.
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