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Drei Irre Unterm Flachdach

Drei Irre Unterm Flachdach

Titel: Drei Irre Unterm Flachdach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastienne Voss
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kö n nen. Du kannst doch noch gar nicht lesen!« Das war alles, was er sagte. Mein verwüstetes Zimmer ließ ihn kalt.
    Großvater hatte sich zum Herrscher über einen Haufen Schrott erkoren. Er hockte in seinen selbstgemachten Gemächern, zu d e nen auch der Keller gehörte, und bewachte seine Heiligtümer. Die gräßlichen selbstgemalten Ölbilder, der häßliche Schreibtisch, die Mandoline mit der gerissenen Saite, die ich nie anfa s sen durfte, der Tischkasten, der mir zum Alptraum geworden war, die eing e staubten Souvenirs auf dem Bücherregal, seine Zeichenstifte, der Schweizer Kräuterzucker und der schmutzigweiße Radie r gummi von Faber-Castell, alles war heilig. Er hatte sich hinter dem ganzen Trödel verschanzt und regierte in seinem Refugium wie ein Ki n derhäuptling im Indianerzelt. Was allerdings ich in meinem Zimmer machte, war ihm egal. Es war mein Zimmer und nicht seins. In me i nem Zelt war ich der Häuptling.
    »Vater hat Alleinfahrten mit der S-Bahn angeordnet. Trotz Gefahr! Aber ich habe begleitet. Im Nebenabteil.« Das hatte er auf einem Zettel notiert. Er untergrub Vaters Erzi e hungsmethoden, sobald der außer Sichtweite war. Ich durfte länger ferns e hen. Ich durfte länger draußen bleiben. Ich durfte eigentlich alles länger. Aber länger als eine halbe Stunde Klavier üben, das mußte ich nicht. Vater bestand auf vier Stunden täglich. Wenn er aus Moskau anrief, log Großv a ter ins Telefon, wie fleißig ich sei. Die Wah r heit war, daß ich drei- bis viermal in der Woche eine halbe Stunde übte, keine Minute länger. Nur am Tag des Unte r richts übte ich eine ganze Stunde aus Angst, mich sonst zu oft zu verspielen. Großvater war der Ansicht, ein Kind dürfe zu nichts gezwungen we r den, und das war auch meine Meinung.
    Den ersten Klavierunterricht hatte ich mit neun. Ich sollte Pianistin werden. Großvater weigerte sich, mich zu begleiten. Er b e hauptete, die Klavierlehrerin würde mich quälen. Anders konnte er sich meine Angst vor dem U n terricht nicht erklären. Ständig erfand ich Ausreden, um nicht hingehen zu müssen. Ich hatte Kop f schmerzen, Fieber, Durchfall, Zahnweh. Und schlecht war mir sowieso. Großmutter durchschaute das Ganze. Sie griff durch und schleifte mich Woche für Woche zum Unterricht. In Panik bat ich Paula, mir mit dem Hammer auf den Daumen zu hauen. Alleine schaffte ich es nicht. Paula schaffte es auch nicht richtig, sie klopfte nur ein bißchen drauf rum. Der Daumen wurde weder dick noch blau, und wieder mußte ich zur Kl a vierstunde.
    Fräulein Mohn hatte eine Schachtel Konfekt auf dem Schoß. Sie hatte immer Konfekt auf dem Schoß. Während ich kli m perte, stopfte sie sich ein Stück nach dem andern in den Mund. Am Ende der Unterrichtsstunde war die Schachtel leer. Im Laufe der Jahre nahm Fräulein Mohn die Form ihrer Pralinen an. Sie war pra k tisch halslos. Auf runden Schultern saß ein dickes weißes Gesicht, u m rahmt von pechschwarzen Haaren. Sie sah aus wie ein Mokkasa h netrüffel.
    Trotz ihrer Körperfülle war Fräulein Mohn flink wie ein Wiesel. Wenn ich mich verspielte, sprang sie aus dem Sessel, eierte auf ihren kurzen Beinen zum Klavier und zerrte an me i nem Pullover. Manchmal riß sie auch mit einem Ruck meinen kleinen Finger in die Höhe: »Der A n schlag! Was ist denn mit deinem Anschlag los!« Der kleine Finger meiner rechten Hand war mein Ve r hängnis. Er war kraftlos und störrisch und wollte nicht spielen, was in den Noten stand. Das brachte den Trüffel auf die Palme.
    Fräulein Mohn unterrichtete auch an Feiertagen. Ostern, Pfingsten, Heili g abend – immer mußte ich zur Klavierstunde. Großvater b e hauptete, der Trüffel ticke nicht richtig. Zu Ostern suchte man Eier, und Weihnachten aß man Gans. Man konnte auch Ente essen, auf keinen Fall aber ging man zur Kl a vierstunde. Wenn Vater und ich am Ostersonntag zum Trüffel fuhren, brüllte Großvater hi n terher: »Du drillst das Kind! Ich lasse das nicht zu!« Ich sah ihn im Rückspiegel des Wagens. Er stand am Straßenrand in einer Staubwolke und ließ ve r zweifelt die Hände sinken.
    Vater war zwar jetzt nicht mehr in Moskau, aber zu Hause war er auch nicht. Mutter hatte sich, als ich neun war, von ihm scheiden lassen. Die einzige Ve r bindung zwischen uns blieb das g e meinsame Klavierüben. Vater kam, sooft er konnte. Dann wurden Töne gebimst. Vier bis fünf Stunden lang, ohne Pause. Großvater trampelte vor meinem Zimmer auf und ab. Der Ki n derschreck sollte

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