Drei Irre Unterm Flachdach
Essen wi e der durch die Gegend flog. In Gedanken sah ich den bekleckerten Teppich und ekelte mich, ich war zwölf.
Im Zimmer stank es. Der Geruch der Speisereste mischte sich mit dem von Kot. Wenn Großvater schlief, lüftete ich heimlich. Er durfte davon nichts mitb e kommen, sonst schnauzte er mich wieder an. »Sofort zum a chen, ich heize nicht für den Garten!« Ihm machte der Gestank nichts aus, er verließ schon lange sein Zimmer nicht mehr.
Ich verfluchte den Umstand, daß ein Mensch, um zu exi s tieren, ständig Luft holen muß, und stel l te mir vor, ich atmete den Duft einer Blumenwiese, den von Erde nach einem Regenguß oder frische Schneeluft. Manchmal träumte ich von der Os t see. Ich tauchte in die Wellen ein und schmeckte das Salzwasser auf der Zunge. So konnte man die Nächte am besten übe r stehen.
Ein halbes Jahr ve r brachte ich Nacht für Nacht im Halbschlaf in Großmutters Bett und wartete auf den Befehl, der sich alle zwei Stunden wiederholte. »Jenni, Beutel wechseln!« Dann knipste ich die trichte r förmige Wandlampe aus den fünfziger Jahren an, kroch unter der Bettdecke vor und tappte rüber zu Großvater. Sobald ich ihn berührte, jaulte er, dabei tat ich ihm gar nicht weh. Ich machte es besser als jede Kranke n schwester! Nachts beschränkte sich unser Zweikampf auf das Auswechseln des Beutels am Darmausgang. Es g e schah gegen Großvaters Willen, der stärker war als die Einsicht in die Notwendigkeit. Die Aufforderung zum Wechseln erfolgte in scharfem Ko m mandoton.
Die Tage und Nächte vergingen in trister Gleichförmigkeit, ich hatte aufg e hört nachzudenken. Nichts würde sich an seinem Z u stand mehr ändern und vorläufig auch an meinem nicht. Im Spiegel betrachtete ich die Ringe unter me i nen Augen, tat mir leid und fand mich großartig. Wenn Mutter fragte, ob es mir gutgehe, ob ich das alles noch aushalten könne, sagte ich ja.
Draußen wurde es warm, bunte Tulpen hatten sich durch die braune Garte n erde gewühlt, überall kräftiges Grün, die Welt blü h te. Schade, daß er das nicht sehen kann, dachte ich, denn er liebte den Frühling so sehr. »Sieh mal, neues Leben entsteht!« hatte er immer gesagt und stolz die Bl u menbeete betrachtet.
Wegen der sommerlichen Temperaturen verstärkte sich der Gestank in unserm Zimmer, das heimliche Lüften nützte überhaupt nichts mehr.
Großvater lächelte jetzt manchmal, wenn ich ins Zimmer kam. Meine Anw e senheit schien ihm plötzlich gutzutun. Er stieß den Teller nicht mehr vom Ta b lett, statt dessen griff er nach meiner Hand. Das nächtliche Gejaule hörte auf, sein Tonfall wurde sanfter. Er begann, sich in sein Schicksal zu fügen, wir waren unzertren n lich.
Als die Sommerferien anfingen, schickte mich Mutter ins Fer i enlager. »Weil du den Opa so schön gepflegt hast«, sagte sie und strich über meine verzottelten Haare. Aus irgendeinem Grund hatte ich aufgehört, mich zu kämmen. Mutter fand es an der Zeit, mich abzul ö sen. Auch an ihrer Schule waren jetzt Ferien. Ich wollte nicht wegfahren, Großvater würde mir fe h len und ich ihm auch. Er nahm nichts von andern, ohne mich würde er ve r hungern und verdursten. Aber sie packten meine Koffer. Keiner fragte mich, was ich wollte.
Ich kam in ein Ferienlager in der Nähe von Berlin, vier Wochen sollte die Sommerfrische dauern. Schon nach zwei Wochen stand Mutters Auto in der sta u bigen Einfahrt zum Lager. Großvater war g e storben.
Mutter sah schlecht aus, ihr Gesicht war bleich und schmal. »Eine Woche hat er noch zu Hause gelegen, dann mußten wir ihn zurück ins Krankenhaus bri n gen. Stell dir vor, du warst weg, und von da an wollte er nichts mehr essen!« Stell dir vor, stell dir vor! Ich brauchte mir gar nichts vorzustellen, denn daß es so kommen würde, hatte ich gewußt. Nur hatte niemand auf mich gehört. Im Krankenhaus habe Großvater u n entwegt meinen Namen gerufen. »Nur dich wollte er noch sehen«, schluchzte Mutter. Die ganze Fahrt über heulte und heulte und heulte ich. Ich konnte einfach nicht mehr damit aufhören.
Zu Hause erwartete uns Großmutter, die gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie stand in ihrem Lie b lingskleid vor der Wohnungstür. Es war das schwarze, gro b maschige Strickkleid, in dem sie immer wunde r schön ausgesehen hatte. Jetzt hing es an ihr heru n ter wie ein nasser Lappen und hatte ein großes Loch im Ärmel. Irgendwie war es auch g e storben. Gro ß mutter sah mich an und sagte mit tonloser Stimme:
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