Drei Irre Unterm Flachdach
Aufforderung: »Ausziehen bitte, Frau äh, äh ...« »Wat soll ick?« Der zweite Bea m te, er hatte schon im Abstellraum gewartet, wiederholte sein Anliegen in schärferem Ton. Auch diesmal fiel ihm Großmutters Name nicht ein. Die begann sich auszuziehen. »Voss, wenn’s recht ist!« »Unterwäsche anla s sen!« »Danke, zu gütig! Wat suchen Sie eigentlich?« »Nichts, a n ziehen bitte!« »Na dit jing aber schnell!« »Frau Voss, was wollen Sie mit zwölf Paar Herrenunterhosen?« Großmutter, schon angezogen, fühlte sich wieder s i cher. »Jetzt hört mir mal gut zu, meine Süßen. Mein Mann ist VdN, Verfolgter des Naziregimes. Er hat fünf Jahre im KZ gesessen und einen enormen Verschleiß an Unterhosen. Die Ostunterhosen kratzen! Abges e hen davon, daß es manchmal auch gar keine gibt!«
Schweigen. Der Koffer wurde zugeklappt und Großmutter in die Hand gedrückt. Samt Herrenu n terhosen stolzierte sie in den Osten, als Siegerin über die Verhältnisse. Noch am Bahnhof Friedrichstraße tauschte sie mit dem Chore o graphen die Unterhosen gegen die Videokamera.
Auf der VdN-Schiene ritt Großmutter überhaupt gern rum. »Mein Mann ist VdN« war der Schlachtruf, wenn es galt, etwas zu bekommen, was es eigen t lich gar nicht gab. Selbst beim Fleischer oder im Fischladen zog die M a sche. Wenn Wilma auf devot machte und hauchte: »Sie wissen doch, der Gustav ist ...«, mußte sie meist nicht mehr weiterreden, und wir hatten unsere Rindermarkkn o chen für den Bohneneintopf. Die Gattin eines Verfolgten des Naziregimes brauchte weder lange a n zustehen, noch mußte der Ve r folgte auf eine stärkende Suppe verzichten. Wir fanden das vollkommen in Ordnung. Großvater hatte schließlich für uns alle g e nug gelitten.
Auch als Gustav gar nicht mehr litt, weil er längst gestorben war, funkti o nierte der VdN-Trick. Selbst ich hatte Vorteile. Als Enkeltochter eines verstorbenen Verfolgten des Nazir e gimes konnte ich meinen Führerschein sofort machen. Normale Menschen mußten zwei Jahre warten. Großmutter hatte bei der zuständigen Stelle vorg e sprochen und erklärt, als VdN-Witwe sei sie stets in höherer Mission unterwegs, habe aber ne u erdings ein Fußleiden und sei deshalb auf ein Auto angewiesen. Ihre Enkeltochter habe sich angeb o ten, sie zu chauffieren, der zwanzig Jahre alte Trabant sei gekauft und stehe vor der Tür, fehle nur noch der Führerschein. Sie selbst sei zu alt und zu unbegabt zum Autofahren. »Und a u ßerdem, Sie wissen schon, mein Fuß!« Schwuppdiwupp hatte ich mit achtzehn die Fahrerlaubnis und fuhr mit Großmutter in die Kaufhalle, zum Getränk e fachhandel oder auf den am andern Ende des Ortes gelegenen Friedhof, um Großv a ter kurz guten Tag zu sagen. Dank VdN war ich ja nun mobil.
Bin ich normal?
Nach Großvaters Tod kam das schwarze Loch. Seit er unter der Erde war, gab es nichts mehr zu tun. Das neue Schuljahr begann. Alles war wie vorher, nur ohne ihn. Was blieb, w a ren trostlose Aussichten und die entscheidende Frage, wozu ich jetzt noch gut war. Die schlimme Familie hatte mich nicht mal geholt, als Gustav auf dem Sterbebett nach mir gerufen hatte. Sie hatten alles genau g e plant. Erst hatten sie uns auseinandergerissen, dann hatten sie mich abgesch o ben, und während Großvater im Krankenhaus ve r reckte, hatten sie, auch noch ohne zu fragen, unsern Mops wegg e geben. Sie waren so grausam, daß es sich nicht in Worte fassen ließ! Großmutter traf dabei die geringste Schuld, denn sie hatte jetzt bloß noch den halben Magen und war fertig mit den Nerven.
Daß aber Mops als Wachhund an die Grenze sollte, das konnte nun wieder nur ihre Idee gewesen sein. Sie hatte sich das fein au s gedacht. Mops sollte in Gustavs Namen an der Grenze schön au f passen, daß keiner eigenmächtig unser Land verließ. »Wir käm p fen und siegen für dich – Fraiihait!«, muß DFD-Wilma gesungen und sich dabei vorgestellt haben, wie Mops sich in die Waden der R e publikflüchtlinge verbeißt. Die Grenze sei seine neue Besti m mung, erklärte sie, und Großvaters letzter Wille, Punkt! Einzige Entschuldigung für soviel Blödsinn war, daß es Großmutter wirklich nicht gutging und ihr Denken vom halben M a gen zersetzt war. Jedenfalls hoffte ich das.
Und das Schicksal wollte dann auch, daß es mit der Grenze nichts wurde. »Der reagiert ja uff gornischt, nichemal uff Schüsse! Der will ja nur spielen!« Der Polizist, der gekommen war, um Mops auf Grenztauglichkeit zu testen, hatte
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