Drei Irre Unterm Flachdach
schnell kapituliert. Großv a ter hatte mit seiner Erziehung ganze Arbeit geleistet – der große schwarze Köter war einfach zu nichts zu gebrauchen! Trotzdem e r barmte sich der Polizist und nahm Mops mit. »Kricht ihn meine Frau, hat se ne Ablengung, hat se was zum Rumdoben!«
Wie traurig war das Leben jetzt, ohne Mops und den Oberirren mit dem KZ-Koller. Vater, der uns selten genug besuchte, kam nur, um mit Mutter zu streiten. War er wieder weg, zog Mutter über ihn her. War ich mit Vater zusa m men, zog der über Mutter her. Gro ß mutter zog, je nach Laune, mal über Mutter und mal über Vater her oder stritt mit mir über Mutter und Vater. Und waren wir zufällig alle zusammen, dann stritten wir alle zusammen über alles. Wie sich jetzt zeigte, hatte Großvater unsichtbare Fäden in der Hand gehabt. Allein seine A n wesenheit hatte bewirkt, daß die Regeln in unsrer Anstalt im großen und ganzen befolgt wurden. Terror-Täve hatte stets dafür gesorgt, daß das Chaos geordnet war. Aus Respekt vor ihm hatten wir uns jahrelang am Riemen gerissen. Das war jetzt nicht mehr nötig, und alles wurde nur noch schli m mer.
Zum Beispiel schickte mich Großmutter zum Nachhilfeu n terricht, weil ich in Mathematik so schlecht war. Das hätte sie zu Großvaters Lebzeiten nicht gewagt. Wegen der Z u satzstunden waren meine Nachmittage in der Theatergruppe gefährdet, was Großvater nie gedu l det hätte. Er wäre für das Theaterspielen und gegen die Mathematik gewesen, auf jeden Fall. Er hätte die Kunst in den Himmel und die Arithmetik zur Hölle fahren lassen.
Er war gerade erst gestorben, schon sehnte ich mich nach seinen Vortrag s abenden zurück! Nein, soviel Leid hätte er mich nicht erdulden lassen: Der fre m de dicke Junge, mit dem ich zur Nachhilfe in ein kahles Zimmer im Dachgeschoß seines Ei n familienhauses verbannt worden war, roch nach Schweiß und hatte keine Geduld mit mir. Sein blaßgrünes Hemd aus Kunstfaser hatte weiße Ränder unter den Achseln, und in dem ve r schwitzten wabbeligen Gesicht zeigten sich hilflos die ersten Bar t stoppeln. Er sah aus wie ein Eisbein. Die Schweißperlen schlängelten sich zwischen den Stoppeln hindurch, den fetten kurzen Hals hi n unter und versickerten im Hemdkragen, während der Dicke mir was von Pote n zen vorquakte. Er war im Stimmbruch, was meine Qualen ins Unermeßliche ste i gerte. Ich sah durch das schräge Dachfenster über mir in den Himmel und begriff nichts.
Während der Potenzrechnungen im Dachgeschoß hatte ich zum ersten Mal das unbestimmte und zugleich klare Gefühl, daß sich an meiner Situation unb e dingt was ändern müsse. Nur wie das funktionieren sollte, wußte ich noch nicht. Aber sooft das Gefühl von nun an wiederkam, so oft folgten ihm früher oder sp ä ter ein Entschluß und dann die Tat.
Ich suchte mir eine Schule mit Internat aus, weit weg von Berlin. Aber es dauerte. Es dauerte noch zwei lange Jahre, bis ich mit vierzehn endlich dorthin durfte. Während ich ve r geblich versuc h te, zu Verstand zu kommen, wurde Mutter häuslich, heiratete zum zweiten Mal und brachte meinen Br u der Max zur Welt. Ich dachte über allerhand verschiedene Dinge nach, zum Beispiel darüber, w a rum ich mich immer schlechter mit Gleichaltrigen verstand. Sie interessierten mich übe r haupt nicht. Lieber unterhielt ich mich mit Leuten, die schon was erlebt hatten. Ideal war, wenn sie ung e fähr im Alter meiner Eltern waren. Dann quatschte ich mit ihnen über Adolf Hitler, der Großvater das Scheiß-KZ und später den Dar m krebs beschert hatte, und über Großmutter, die immer noch den Spruch mit dem Dritten Reich und der Schraube aufsagte, weil er wegen der BDM-Zeit in ihrem Kopf so festsaß. Mit Gleichaltrigen konnte ich darüber nicht reden, sie begriffen nichts. Ich übe r sprang meine Generation und gesellte mich zu denen, von denen ich mich verstanden fühlte. In Gegenwart gleichal t riger Freunde benutzte ich dauernd Fremdwörter, die ich in meinen wichtigen Gesprächen mit den Ält e ren aufgeschnappt hatte und schick fand. Schizophrenie klang einfach besser als Geisteskran k heit.
Ich stand im Abseits und galt als arrogant. Mit dreizehn war ich so reif und klug, daß ich meinen Altersgenossen nahelegte, mal über die Vergangenheit nachzudenken. Das lohne sich schon allein deshalb, weil man vor dem Hintergrund der jüngsten deu t schen Geschichte – so drückte ich mich tatsächlich aus – besser einschätzen könne, was an der DDR toll und was
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