Drei Irre Unterm Flachdach
mußte ich noch in Wernigerode feiern. Der N o vember war schon trist genug, und dann dieses Kaff, entsetzlich. Schon am Tag zuvor war meine Stimmung im Keller. Achtzehn, dieses unglau b liche Alter, und ich nicht in Berlin! Es war der alle r größte Mist. Wenigstens hatte ich mir eine kleine Party organisiert. Sie fand bei Nina statt, einer Wernigeroderin aus me i ner Klasse, nicht im Internat. Ich hatte alle meine Ki r chenfreunde eingeladen, wir wollten reinfeiern. Dazu kamen Jochen, der Freund von Nina, und David, der Freund von Kirchen-Klara. David hatte sein Abitur in Leipzig an der Thomasschule gemacht. Daß er Thomaner gewesen war, beei n druckte uns alle schwer. Jochen und David waren nett, aber Horst, der an einer seelischen Verstimmung zu knabbern hatte und leider nicht kommen konnte, war als Mann nicht zu to p pen.
Wieder ging es um Bettina Wegner, und diesmal waren wirklich alle gegen mich, einschließlich Nina, die ständig fraß und kotzte wegen ihrer Magersucht und von uns allen die Rebe l lischste war. Sie hielt sonst immer zu mir, doch an meinem achtzehnten Geburtstag ließ sie mich im Stich. Ich vermutete, daß das wied e rum an Jochen lag, der auch für Bettina Wegner war. Da konnte Nina nicht dagegen sein, denn Jochen war zwei Jahre älter als sie. Ich trank den Tokaier von Ninas Eltern aus, legte mich unter Ninas Klavier und schlief ein. Die andern di s kutierten weiter, sie hatten gar nicht gemerkt, daß ich nicht mehr mit von der Partie war. Nach der deprimierenden Fete stürzte ich in eine tiefe Sinnkrise.
Doch erst mal fiel ich weich. Am nächsten Tag stand Großmutter stolz wie ein Ausflugsdampfer in der Tür meines Internatszi m mers, Sofia und Anatoli aus Riga im Schlepptau. Sie hatte die be i den, die Mutter seit ihrem Studium in Moskau kannten, in die DDR eingeladen, um mich zu überraschen: mit einem russischen Kinderlied, zu meinem achtzehnten G e burtstag. Da stand ein dickes Ehepaar aus Riga in einem kleinen Zimmer in Wernigerode und schmetterte, daß die Gol d zähne blitzten: »K soscholenju, Djen rasch Djenja, tolko ras w godu – Schade, daß man nur einmal im Jahr Geburtstag hat!« Ich dachte, ich spinne. Das war mein Lieblingslied aus Kinde r tagen! Mutter hatte mir die Platte, auf der ein Kr o kodil sang, aus der Sowjetunion mitgebracht. Wilma lehnte während des Vortrags an der Wand und rauchte eine Zigarette ihrer Lieblingsmarke Duett. Sie weinte schon wieder vor Rührung. Ihre Aufmachung war eine Wucht. Knöche l langer schwarzer Rock mit Volants, schwarze Bluse, fetter, goldbraun schi m mernder Bernsteinschmuck um Handgelenk und Hals. Über der Bluse ein breiter schwarzer Lackledergürtel mit einer spektakulären Silbe r schnalle. Die Bluse war schief geknöpft.
Schnell, wiedewell, wiedejuchjuchjuch
Wenn sie nicht unter Großvaters Aufsicht stand, benahm sich Großmutter so n derbar. Sie wirkte vollkommen entfesselt. Alles, was sich in ihr a n gestaut hatte, mußte dringend raus an die Luft. Im Beisein fremder Leute benahm sich Wilma an Gustavs Seite einigermaßen anständig und spielte, von kleineren Entgleisungen abgesehen, die sorgende, zurüc k haltende, kultivierte Ehefrau. Doch sobald er außer Sichtweite war, flippte sie aus. Sie ließ sich gehen, redete und lachte viel und laut und ließ ihrem Hang zum Vulgären freien Lauf. Sie b e nahm sich so, wie sie in Wirklichkeit war.
Wildfremden Käseverkäuferinnen erzählte sie erst mal einen Witz: »Kennen Sie den? Kommt ’ne Frau in den Käseladen und fragt: ›Fräulein, ham Se ’nen Roquefort?‹ Sagt die Verkä u ferin: ›Na de n ken Se, ick steh im Schlüpfer?«‹ Sie klatschte sich lachend auf die Schenkel und gab ihre Bestellung auf. Die Verkä u ferin fand den Käsewitz nicht komisch, doch davon merkte Großmutter nichts. Zuletzt bestellte sie anstelle von R o quefort »noch hundert Gramm Schlüpferk ä se«. Ich scharrte mit meinem Schuh auf dem Kachelb o den rum und genierte mich furchtbar. Wenn wir auf die S-Bahn warteten, rannte sie in gebückter Haltung mit weit aufg e rissenen Augen auf dem Bahnsteig hin und her und sang: »Schnell, wiedewell, wiedejuchjuchjuch, der Mensch ist keine Fliege!« Angeblich machte sie das zum Zeitvertreib. Mir war diese Art von Zeitvertreib so peinlich, daß ich mich hinter dem Wart e häuschen am Ende des Bahnsteigs versteckte und nicht re a gierte, wenn sie mich rief.
Großmutter hatte was gegen kinderreiche Familien. Sie hielt sie für asozial und
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