Drei Irre Unterm Flachdach
behauptete, in solchen Familien würden die Leute sich nicht w a schen. Ein Mädchen aus meiner Klasse, das sechs Geschwister hatte, durfte ich nicht zu Hause bes u chen. »Zu Sandra jehste mir nich, da kriegste die Krätze!« zeterte sie und zog einen Latschen aus, um mir damit zu drohen. Großmutter war selbst mit vier Geschwistern aufgewachsen, und die wuschen sich, soweit ich wußte, all e samt. Ich schleppte Sandra, die sich alles gefallen ließ, mit zu uns und stellte sie unter die Dusche. Mit Schwamm und Seife rubbelte ich auf ihrem Rücken rum und staunte nicht schlecht. In der Badewanne bildete sich ein grauschwarzer Dreckrand. Großmutter, die so neugierig war, daß sie geschlossene T ü ren nicht ertragen konnte, stürzte ins Badezimmer und sah Sandra aus der ki n derreichen Familie in unserer Wanne stehen. »Dit kann doch wohl nicht wahr sein! Sofort raus da! Wer soll denn dit wieder sauber kriegen!« Sandra fing an zu flennen, worauf Großmutter umschwenkte: »Na, nu biste wenigstens mal frisch jew a schen.« Es war erstaunlich, wie sie in ihrer Rage im letzten M o ment noch die Kurve kriegte. Sie konnte Mitleid empfinden, wahrscheinlich war es das. Gro ß vater kriegte die Kurve nie.
Bei uns um die Ecke wohnte eine alte Frau. Sie hatte ein Glasauge, war auf dem echten Auge fast blind und saß im Rol l stuhl. Niemand kümmerte sich um sie, sie hatte keine Familie, keine Freunde. Die Nachbarn wollten von der Alten nichts wissen. Der verwilderte Garten, zugestellt mit G e rümpel, gab Anlaß zu Klatsch und Tratsch. Die Alte teilte sich das Haus mit acht Katzen, draußen tä n zelte zwischen verbeulten Blechtöpfen eine Schar ausgemergelter Hühner rum. Großmutter ging für die Blinde ei n kaufen, kochte das Essen, fütterte die Tiere, hockte stundenlang in der ve r wahrlosten Bude und tratschte. Zweimal ging ich mit, dann ließ ich es sein. In dem Haus war es nicht auszuhalten. Die Jalousien waren runte r gelassen, auch am Tage, und die Alte machte kein Licht. Wozu auch, sie sah ja eh nichts. Nur wenn Wilma kam, knipste sie im Wohnzimmer eine kleine Lampe an, für den Gast. Die Zimmer waren verkramt, in den Ecken stapelten sich alte Zeitungen zwischen Tüten mit aussortierten Jacken, Mänteln und H ü ten. Auf einer Tüte lag ein totes Tier. Als ich näher ranging, entpuppte es sich als Pelzkragen, den ich später in Großmutters Schrank wiederfand. Die K ü che war aufgeräumt. Großmutter hatte Ordnung gemacht, damit sie für sich und die Alte Kaffee kochen konnte. Trotzdem mußte man die Luft anhalten, denn es stank barbarisch nach Katzenpisse. Ich wunderte mich, daß Großmutter nicht die Krätze bekam, sie saß andauernd in diesem Dreckloch rum und trank aus ang e schlagenen Sammeltassen.
Die invalide Usch hatte als Dolmetscherin in Moskau g e arbeitet, in Diplom a ten- und Politikerkreisen verkehrt und war A n fang der Neunziger sogar mal im Fernsehen gewesen. In irgendeiner Sendung über die Sowjetunion in den siebz i ger Jahren auf irgendeinem Kongreß unter dem roten Banner in irgendeiner Uniform neben irgendeinem Staat s mann. Großmutter hatte aufgeschrien: »Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt, das ist die Usch! Mann, sah die mal juuut aus!« Nun war Usch hä ß lich und einsam. In der DDR hatte sie längst ausgedient. All die Tüten mit den Mä n teln und Hüten, die vielen Zeitungen – »Prawdas« und »NDs« – Usch hatte sich von den Zeugen einer besseren Zeit nicht trennen kö n nen. Nun moderten sie im Dunkel, nichts davon würde mehr ans Tageslicht kommen, bis auf den Pelzkragen aus der Uliza Go r kowo. Großmutter plauderte mit Usch über Vergangenes, sie war die einzige, die sich noch dafür interessierte. Mitte der Neunziger starb Usch. Sie vermachte uns eine Jugendstilschale, die zwei nackte Frauen mit vo r gestreckten Bäuchen als Henkel hatte.
Zu den Usch-Tagen kam nach der Wende ein Ulbricht-Tag: »Ick muß mich jetzt einteilen!« sagte Großmutter und machte ein wic h tiges Gesicht. Um Lotte Ulbricht, die Witwe von Walter Ulbricht, war es nach dem Fall der Mauer still geworden. Außer einer Hau s hälterin und Großmutter ließ sie fast niemanden mehr ins Haus. Lotte und Wilma kannten sich aus der gemeinsamen Zeit beim Demokratischen Frauenbund Deutsc h lands. Sie schwelgten in Erinnerungen, tranken Tee und »ab und zu mal ein Likörchen«.
Neuerdings fuhr Großmutter einen Abend im Monat mit dem Fahrrad zur PDS-Ortsgruppenversammlung. Dort trank sie mit ihren
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