Drei Kameraden
zu, er fände die Sache richtig. Und Alfons war ein Kenner. Nicht gerade in bezug auf Schönheit und Kultur – wohl aber in bezug auf Kern und Gehalt.
»Wenn Sie Glück haben, lernen Sie Alfons in seiner menschlichen Schwäche kennen«, sagte ich.
»Das möchte ich mal«, erwiderte sie. »Er sieht aus, als hätte er keine.«
»Doch!« Ich zeigte auf einen Tisch neben der Theke. »Da...«
»Was? Das Grammophon?«
»Nicht das Grammophon. Chorgesang! Alfons hat eine Schwäche für Chorgesang. Keine Tänze, keine klassische Musik – nur Chöre: Männerchöre, gemischte Chöre –, alles, was da an Platten liegt, sind Chöre. Da sehen Sie, er kommt.«
»Geschmeckt?« fragte Alfons.
»Wie bei Muttern«, erwiderte ich.
»Die Dame auch?«
»Die besten Schweinerippchen meines Lebens«, erklärte die Dame kühn.
Alfons nickte befriedigt. »Spiele euch jetzt mal meine neue Platte vor. Werdet staunen.«
Er ging zum Grammophon. Die Nadel kratzte, und machtvoll erhob sich ein Männerchor, der mit gewaltigen Stimmen das »Schweigen im Walde« sang. Es war ein verflucht lautes Schweigen.
Vom ersten Takt an wurde alles im Lokal still. Alfons konnte gefährlich werden, wenn jemand keine Andacht zeigte. Er stand an der Theke, die haarigen Arme aufgestützt. Sein Gesicht veränderte sich unter der Macht der Musik. Es wurde träumerisch – so träumerisch, wie eben ein Gorilla werden kann. Chorgesang hatte eine unbeschreibliche Gewalt über ihn. Er wurde dabei sanft wie ein Rehkitz. Er konnte mitten in einer Schlägerei sein – wenn ein Männerchor ertönte, ließ er, wie von einem Zauberschlag getroffen, los, horchte und war bereit zur Versöhnung. Früher, als er noch jähzorniger war, hatte seine Frau immer Platten spielfertig liegen, die er besonders liebte. Wenn es dann gefährlich wurde und er schon mit dem Hammer hinter der Theke hervorkam, setzte sie rasch die Nadel an – und Alfons ließ den Hammer sinken, lauschte und wurde ruhig. Inzwischen war das nicht mehr so nötig – die Frau war tot, ihr Bild, ein Geschenk Ferdinand Graus, der dafür hier Freitisch hatte, hing über der Theke –, und auch Alfons war älter und kälter geworden.
Die Platte lief aus. Alfons kam heran.
»Wunderbar«, sagte ich.
»Besonders der erste Tenor«, ergänzte Patrice Hollmann.
»Richtig«, meinte Alfons und wurde zum erstenmal lebhafter, »Sie verstehen was davon! Der erste Tenor ist ganz große Klasse.«
Wir verabschiedeten uns von ihm. »Grüßt Gottfried«, sagte er. »Soll sich mal wieder sehen lassen.«
Wir standen auf der Straße. Die Laternen vor dem Hause warfen unruhige Lichter und Schatten nach oben in das Ästegewirr eines alten Baumes. Die Zweige hatten schon einen leichten grünen Schimmer, und durch das flackernde, undeutliche Licht von unten erschien der Baum viel mächtiger und höher; er sah aus, als verlöre sich die Krone in der Dämmerung darüber – wie eine riesige, gespreizte Hand, die in einer ungeheuren Sehnsucht nach dem Himmel griff.
Patrice Hollmann schauerte ein wenig.
»Ist Ihnen kalt?« fragte ich.
Sie zog die Schultern hoch und steckte die Hände in die Ärmel ihrer Pelzjacke. »Nur einen Augenblick. Es war drinnen ziemlich warm.« – »Sie sind zu leicht angezogen«, sagte ich. »Es ist abends noch kalt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich trage nicht gern schwere Sachen. Und ich möchte, daß es endlich einmal warm wird. Ich mag keine Kälte. Wenigstens nicht in der Stadt.«
»Im Cadillac ist es warm«, sagte ich. »Zur Vorsicht habe ich auch eine Decke mitgebracht.«
Ich half ihr in den Wagen und legte ihr die Decke über die Knie. Sie zog sie höher hinauf. »Herrlich! So ist es wunderbar. Kälte macht traurig.«
»Nicht nur Kälte.« Ich setzte mich ans Steuer. »Wollen wir jetzt etwas spazierenfahren?«
Sie nickte. »Gern.«
»Wohin?«
»Einfach so langsam durch die Straßen. Ganz gleich, wohin.«
»Gut.«
Ich ließ den Motor an, und wir fuhren langsam und planlos durch die Stadt. Es war die Zeit, wo der Abendverkehr am stärksten ist. Wir glitten fast unhörbar hindurch, so leise summte die Maschine. Es war, als sei der Wagen ein Schiff, das lautlos über die bunten Kanäle des Lebens trieb. Die Straßen wehten vorüber, die hellen Portale, die Lichter, die Laternenreihen, der süße, weiche, abendliche Aufruhr des Daseins, das sanfte Fieber der erleuchteten Nacht, und über allem, zwischen den Dächerrändern, der
Weitere Kostenlose Bücher