Drei Männer im Schnee
und schwankend, einen der Pfeiler passierte, bewegte sie lautlos die Lippen.
Die Hälfte der Strecke war ungefähr vorüber. Sie hob vorsichtig die Lider und blinzelte durchs Fenster. Man schwebte gerade hoch über einem mit Felszacken, Eissäulen und erstarrten Sturzbächen reichhaltig ausgestatteten Abgrund. Die andern Fahrgäste schauten andächtig in die grandiose Tiefe. Tante Julchen stöhnte auf, und ihre Zähne schlugen gegeneinander. »Sie sind aber ein Angsthase!« meinte Schulze ärgerlich.
Sie war empört. »Ich kann Angst haben, so viel ich will! Warum soll ich denn mutig sein? Wie komme ich dazu? Mut istGeschmackssache. Habe ich recht, meine Herrschaften? Wenn ich General wäre, meinetwegen! Das ist etwas anderes. Aber so? Als meine Schwester und ich noch Kinder waren – meine Schwester ist in Halle an der Saale verheiratet, recht gut sogar, mit einem Oberpostinspektor, Kinder haben sie auch, zwei Stück, die sind nun auch schon lange aus der Schule, was wollte ich eigentlich sagen?
Richtig, ich weiß schon wieder – damals waren wir in den großen Ferien auf einem Gut – es gehörte einem entfernten Onkel von unserem Vater, eigentlich waren sie nur Jugendfreunde und gar nicht verwandt, aber wir Mädchen nannten ihn Onkel, später mußte er das Gut verkaufen, denn die Landwirte haben es sehr schwer, aber das wissen Sie ja alle, vielleicht ist er auch schon tot, wahrscheinlich sogar, denn ich bin heute – natürlich muß er tot sein, denn hundertzwanzig Jahre alt wird doch kein Mensch, es gibt natürlich Ausnahmen, vor allem in der Türkei, habe ich gelesen. Oh, mein Kopf! Ich hätte gestern nacht nicht so viel trinken sollen, ich bin es nicht gewöhnt, außerdem habe ich fremde Herren zum Tanz engagiert. Sie können mich totschlagen, ich habe keine Ahnung mehr, es ist schauderhaft, was einem in so einem Zustande alles passieren kann…« Bums! Die Drahtseilbahn hielt. Man war an der Gipfelstation angelangt. Die Fahrgäste stiegen laut lachend aus.
»Die alte Frau hat den Höhenrausch«, sagte ein Skifahrer.
»Ach wo«, antwortete ein anderer. »Sie ist noch von gestern abend besoffen!«
Tante Julchen und die beiden älteren Herren machten es sich in den Liegestühlen bequem.
»Willst du nicht erst das Panorama bewundern, liebe Tante?« fragte Hilde. Sie stand neben Hagedorn an der Brüstung und blickte in die Runde. »Laßt mich mit euren Bergen zufrieden!« knurrte die Tante, faltete die Hände überm Kostümjackett und sagte: »Ich liege gut.«
»Ich glaube, wir stören«, flüsterte Hagedorn. Schulze hatte scharfe Ohren. »Macht, daß ihr fortkommt!« befahl er. »Aber in einer Stunde seid ihr zurück, sonst raucht’s! Kehrt, marsch!« Dann fiel ihm noch etwas ein. »Fritz! Vergiß nicht, daß ich Mutterstelle an dir vertrete!«
»Mein Gedächtnis hat seit gestern sehr gelitten«, erklärte der junge Mann. Dann folgte er Hilde. Doch er wurde noch einmal aufgehalten. Aus einem Liegestuhl streckte sich ihm eine Frauenhand entgegen. Es war die Mallebré. »Servus, Herr Doktor!« sagte sie und ließ hierbei ihre schöne Altstimme vibrieren. Sie sah resigniert in seine Augen. »Darf ich Sie mit meinem Mann bekannt machen? Er kam heute morgen an.«
»Welch eine freudige Überraschung!« meinte Hagedorn und begrüßte einen eleganten Herrn mit schwarzem Schnurrbart und müdem Blick.
»Ich habe schon von Ihnen gehört«, sagte Herr von Mallebré. »Sie sind der Gesprächsstoff dieser Saison. Meine Verehrung!«
Hagedorn verabschiedete sich rasch und folgte Hilde, die am Fuß der Holztreppe im Schnee stand und wartete.
»Schon wieder eine Anbeterin?« fragte sie. Er zuckte die Achseln.
»Sie wollte von mir gerettet werden«, berichtete er. »Sie leidet an chronischer Anpassungsfähigkeit. Da ihre letzten Liebhaber mehr oder weniger oberflächlicher Natur waren, entschloß sie sich, die Verwahrlosung ihres reichen Innenlebens befürchtend, zu einer Radikalkur. Sie wollte sich an einem wertvollen Menschen emporranken. Der wertvolle Mensch sollte ich sein. Aber nun ist ja der Gatte eingetroffen!« Sie kreuzten den Weg, der zur Station hinunterführte. Der nächste Wagen war eben angekommen. Allen Fahrgästen voran kletterte Frau Casparius ins Freie. Dann steckte sie burschikos die Hände in die Hosentaschen und stiefelte eifrig zum Hotel empor. Hinter ihr, mit zwei paar Schneeschuhen bewaffnet, ächzte Lenz aus Köln.
Die blonde Bremerin erblickte Hagedorn und Hilde, kriegte böse Augen und
Weitere Kostenlose Bücher