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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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am Küchentisch, hatte die Beine hochgelegt und blies sich kühle Luft in den Ausschnitt. Sie schob ihr den Zucker hin. Ein Becher mit Milchkaffee stand bereits da.
    »Gut, dass du geschlafen hast«, fuhr sie dann fort. »Heute Nacht wird es spät.«
    »Ah ja.«
    »Willst du Damián noch sehen, bevor du nach Hause fliegst?«
    Giulietta schaute von ihrem Becher auf und sagte nach einer Pause: »Ich war heute bei Nieves.«
    Lindsey zog die Augenbrauen hoch. »Und hast kein blaues Auge?«
    »Diese Frau ist furchtbar vulgär. Ich verstehe ja, dass sie mich nicht mag. Aber so etwas habe ich noch nicht erlebt.«
    Sie schilderte, wie die Tanzstunde verlaufen war, Nieves’ hysterisches Geschrei auf dem Treppenabsatz. »Offenbar ist Damián ein Adoptivkind oder so etwas, und Nieves meint wohl, er sei deshalb nicht ganz richtig im Kopf. Es war wirklich schlimm.«
    Lindsey Gesicht fiel in sich zusammen. Ihr Mund stand halb offen. Dann sagte sie leise: »Fuck.«
    »Hmm. So kann man es auch ausdrücken.«
    Lindsey starrte sie an und schüttelte den Kopf. Manchmal war diese Frau ein wenig unheimlich. Jetzt rieb sie sich das Gesicht mit den Händen ab, räusperte sich und sagte: »Mut hast du ja, das muss man sagen. Aber warum willst du jetzt aufgeben? Damián kommt heute Abend möglicherweise ins
Sunderland
. Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen, die seine Gewohnheiten kennen.«
    »
Sunderland?
Was ist das?«
    »Ein Club. Normalerweise geht man dort nur samstags hin. Es ist einer der ältesten Clubs der Stadt. Ziemlich weit draußen. Lauter Fossile. Heute hat Nestor Geburtstag. Nestor del Campo. Der Mann ist über achtzig. Damián liebt ihn über alles. Als er zu tanzen anfing, bevor er überhaupt den ersten Schritt gelernt hat, saß er monatelang im
Sunderland
und schaute den Alten zu. Nestor hat irgendwann Gefallen an ihm gefunden und ihm seine Geschichten erzählt. Der Mann ist eine wandelnde Tangoenzyklopädie. Wenn Damián in Buenos Aires ist, kommt er bestimmt.«
    Giulietta schaute entschlusslos vor sich hin. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte. Der Gedanke, ihn zu sehen, erfüllte sie mit ebenso viel Verlangen wie Furcht. Heute vor einer Woche hatte sie ihren Vater in ihrer Wohnung gefunden. Ihre letzte Begegnung mit Damián lag neun Tage zurück. Nur neun Tage? Es kam ihr vor, als sei das alles in einem anderen Leben geschehen. Berlin. Die Staatsoper. Ihr Ausflug nach Weimar. Die Vorstellung war absurd. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, Lindsey alles zu erzählen und die ganze Geschichte einfach loszuwerden. Diese Frau konnte rätselhafte Codes lösen. Vielleicht verstand sie ja auch etwas von den Menschen. Aber sie widerstand der Versuchung. Wozu? Morgen käme ihr Vater. Das Beste wäre, ihn aufzusuchen, ihn anzuhören und nach Hause zu fliegen. Vielleicht hatte er ja eine Erklärung. Bestimmt. Ihr Vater hatte noch immer für alles eine Erklärung gehabt. Ihr Blick fiel auf die Papiere.
    »Du hast Damiáns Geheimnis gelüftet, nicht wahr?«, sagte Giulietta und wies auf die Bögen.
    Lindsey griff nach den Papieren und schob sie dann Giulietta hin. »Ich habe bis heute Morgen gebraucht, das zu entschlüsseln. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Aber es gibt keinen Zweifel. Er hat überhaupt keinen richtigen Stil. Er tanzt Chiffren.«
    »Klar tanzt er Chiffren. Das habe ich dir ja gleich gesagt. Er hat es mir in Berlin sogar vorgemacht. Allerdings verstehe ich das mit den Zahlen nicht.«
    Lindsey suchte das Blatt mit der Tabelle. »Ich habe nur ein paar Aufnahmen von ihm. Acht, um genau zu sein. Aber es deckt einige Jahre ab. 1995–1998. Was wir gestern angeschaut haben, funktioniert nur bis 1996. Ich habe drei oder vier Stücke analysiert, die er nach 1996 gemacht hat, aber es kommt nur Unsinn heraus. Er hat den Code verändert. Und ich weiß auch, warum.«
    »Ach ja?«
    »Offenbar wollte er ganze Sätze schreiben. Das geht nicht mit den Figurennamen. Die Choreografien würden viel zu lang.«
    »Vielleicht waren manche Kombinationen auch einfach untanzbar«, warf Giulietta ein.
    »Vielleicht. Irgendwann fängt er jedenfalls damit an, mit Positionen zu arbeiten. Er überspringt Positionen und baut daraus ein Alphabet.«
    »Was für Positionen?«
    »Es gibt acht Positionen im Tango, die immer gleich bleiben: die Positionen des Grundschritts. Es ist das Skelett, aus dem alle Figuren herauswachsen und zu dem alle Bewegungen auch wieder zurückkehren müssen. Manche Tänzer merken sich schwierige Figuren anhand

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