Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Alphabets war doch ein U und kein P. Der zweite ein B. Nach Lindseys System entsprach die Nummer zwei jedoch einem A. Außerdem dürfte es eigentlich keine Zahl 28 geben. Sie schaute erneut die rätselhafte Tabelle an, die Lindsey zusammengestückelt hatte, konnte jedoch nicht erkennen, wie die unterschiedlichen Spalten zusammenhingen.
ABC
Figures
Positions
Positions
2-8
(sans 1-9-11 19-2)
2-8
(sans 1-9-11-12-
19-22-23-32-33)
a-1
Abanico
Americana
A-2
0-2
A-2
0-2
b-2
Barrida
B-3
0-3
B-3
0-3
c-3
Calesita,
Cunitza
C-4
0-4
C-4
0-4
d-4
Doblar,
Dibujar
D-5
0-5
D-5
0-5
e-5
Enrosque
E-6
0-6
E-6
0-6
f-6
Firulete
F-7
0-7
F-7
0-7
g-7
Gancho
G-8
0-8
G-8
0-8
h-8
Hesitación
H-10
1-0
H-10
1-0
Die Tabelle füllte mehrere Seiten. Bis zur zweiten Spalte konnte Giulietta folgen. Die Anfangsbuchstaben der einzelnen Figuren dienten offenbar als bewegliche Lettern in Damiáns rätselhaftem Tangoalphabet. Doch wie kam es zu den Zahlen in den nächsten Spalten? Wie funktionierte der Rückschluss von den Zahlen auf die Buchstaben? Und was um alles in der Welt sollte das am Ende bedeuten? Doch wohl nur, dass zutraf, was alle sagten: Damián war nicht ganz richtig im Kopf. Er tanzte überhaupt nicht, sondern schrieb wirre Formeln aufs Parkett, die wahrscheinlich nur für ihn einen Sinn ergaben. Wer tat denn so etwas? Giulietta wusste aus dem Musikunterricht, dass manche Komponisten des Barock so verfuhren. Sie schmuggelten kabbalistische Botschaften in ihre Kompositionen. Sie hatte das damals interessiert zur Kenntnis genommen, dann aber schlechterdings albern gefunden. Im modernen Tanztheater gab es auch solche Strömungen mit Posen und Chiffren, deren Hintergründigkeiten man ohne weitschweifige Erklärung überhaupt nicht verstehen konnte. Sie hatte dafür nichts übrig. Schönheit, vor allem im Tanz, war für sie eine Sache der Klarheit. Choreografische Kopfgeburten waren ihr zuwider. Jemand hatte ihr einmal begeistert eine Passage aus
Finnegan’s Wake
vorgelesen und verkündet, genauso, wie Joyce geschrieben habe, müsse man Ballett machen. Sie kaufte sich das Buch sogar und versuchte zu verstehen, was daran so toll sein sollte. Es las sich wie ein vom Tisch gefallenes Scrabble-Spiel. Sie las zehn Seiten und benutzte die kryptische Schwarte schließlich als Blumenständer, um ihrer Azalee am Fenster einen besseren Lichteinfall zu verschaffen.
Lindseys Zimmer begann sie zu deprimieren. Sie ging wieder in den Garten hinaus und setzte sich im Schatten auf einen Liegestuhl. In der Entfernung rauschte die Autobahn, aber eigentlich war es ganz idyllisch hier. Alle Zimmer waren ebenerdig um diesen halb gefliesten, halb begrünten Hof gruppiert. Am Ende des Gebäudes befand sich die große, gemütliche Wohnküche, in der sie vorhin noch mit Pablo Apfelsaft getrunken hatte. Daneben gab es zwei geräumige Bäder. An der Mauer zum nächsten Gebäude thronte ein riesiger Grill, aus keinem argentinischen Haus wegzudenken. Giulietta legte die Beine hoch und schloss die Augen. Ein leichter Wind strich über ihre Haut und spielte mit ihren Haarsträhnen. Dann hatte sie plötzlich das Gefühl, eine riesige Tür falle über ihr lautlos ins Schloss.
18
A ls sie die Augen wieder öffnete, saß Lindsey neben ihr und lächelte sie an.
»Gut geschlafen?«
Sie fuhr hoch. Ihr Kleid war schweißnass. Ihre Zunge pelzig.
»Keine Panik. Du bist zwar noch immer am Ende der Welt, aber noch nicht von ihrer Kante gefallen.«
»Wie spät ist es?«
»Halb sieben. Ich habe etwas länger gebraucht.«
Sie hatte fast zwei Stunden geschlafen.
»Ich habe wohl immer noch Jetlag.«
»Klar. Die Seele geht zu Fuß. Kaffee?«
Giulietta nickte. Dann, nach einem Blick auf ihr Kleid, fragte sie: »Meinst du, ich kann kurz duschen?«
»Sicher. Alles leer. Keiner da. Du hast die Wahl.«
Lindsey stand auf, verschwand kurz in ihrem Zimmer und kehrte mit einem Handtuch und einem zwar verknitterten, aber sauberen T-Shirt nebst Shorts zurück. Sie legte ihr die Sachen einfach auf die Beine und ging in die Küche.
Giulietta duschte kalt. Das Handtuch roch nach Zigarettenrauch. Das T-Shirt und die Shorts ebenso, aber ihr Kleid war zu verschwitzt. Sie überwand sich und zog Lindseys Sachen an. Dann wusch sie ihr Kleid mit Shampoo durch, wrang es aus, so gut sie konnte, hängte es auf einen Bügel, den sie im Vorraum der Dusche gefunden hatte, und trug es in den Garten hinaus. In der Abendsonne würde das Kleid schnell trocknen. Die Hitze hatte auch Vorteile.
Lindsey saß
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