Drei Minuten mit der Wirklichkeit
der Positionen.«
»Kann ich mir so nicht vorstellen«, sagte Giulietta.
»Nein. Klar. Weil du die Schritte nicht kennst. Aber so funktioniert sein System. Damián wollte aus irgendeinem Grund Wörter tanzen. Erst hat er das mit den Anfangsbuchstaben der Figurennamen versucht. Dann war ihm das zu beschränkt, und er hat aus den Zahlen der Positionen von 1 bis 8 ein richtiges Alphabet gemacht.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Weil es funktioniert. Im Grunde ist das ganz einfach. Erst muss man wissen, woran man die bedeutungstragenden Teile erkennt. Wie bei jeder Sprache ist ja nicht alles gleich wichtig.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das ist wie in der Linguistik. Als die Missionare in Afrika die Sprachen der Eingeborenen studieren wollten, sind sie genauso verfahren. Sie hatten ja keinerlei Anhaltspunkte, keine Wörterbücher, Grammatik, Behelfssprachen. Nichts. Blieb nur die Phonem-Analyse. Das ist universell und funktioniert immer. Schau. Was steht hier?« Lindsey nahm ein Blatt und schrieb ein Wort auf.
»Hat«, sagte Giulietta.
»Genau. Was man auf dem Kopf trägt. Und jetzt?«
Sie schrieb noch ein Wort.
»Haat.«
»Uhm. Und jetzt?«
»Haaaat.«
»Und an was denkst du, wenn du den Laut ›Haaaat‹ hörst?«
»An jemanden, der schlecht Englisch spricht oder auf dem Markt Hüte ausschreit.«
»Eben. Aber du denkst immer noch an den Begriff ›hat‹, nicht wahr?«
»Ja. Und?«
»Obwohl wir den Vokal extrem verlängert haben, ändert sich der Sinn für dich nicht. Es hört sich nur an, als ob jemand aus North Carolina versucht, ›hat‹ zu sagen. Wenn wir aber einen anderen Vokal wählen, dann ist sofort ein neues Wort da. Schau. Was steht jetzt hier?«
»Hot«, las Giulietta. Dann musste sie kichern. Das Ganze war wirklich zu komisch. Lindsey schaute sie streng an.
»Etwas Disziplin bitte. Schau, drei AAA s ändern nichts. Aber ein A, das zu einem O wird, ändert jede Menge. Sogar die Wortklasse. Ein Substantiv wird zum Adjektiv. Also haben wir für Englisch schon eine erste Regel gefunden: Vokaldehnung ist im Englischen nicht phonemisch. In jeder Sprache funktioniert das anders. Denk nur an Chinesisch. Da sind die Laute L und R nicht phonemisch. Jede Sprache hat phonemische Regeln. Das ist die wichtigste Grundunterscheidung, um überhaupt etwas verstehen zu können. Sinnhaftes von Sinnlosem trennen.«
Giulietta tat es jetzt Leid, gelacht zu haben. Es war ja schon interessant, was Lindsey da erzählte. Aber was hatte das alles mit Damiáns Tangos zu tun?
»Entschuldige, aber das klingt alles tatsächlich wie Chinesisch für mich.«
»Ist es aber nicht. Damián tanzt bisweilen komische Schritte. Das ist bekannt. Aber auch Hector tanzt Figuren, die nur er tanzt. Genauso wie alle anderen Tänzer auch ihre stilistischen Eigenheiten haben. Aber das sind nur unterschiedliche Dialekte der gleichen Sprache. Es sind Stile. Damián hingegen hat eine eigene Sprache.«
Giulietta schaute Lindsey fasziniert an. Diese Frau war wirklich bemerkenswert. Sie erklärte ihr diese abstrusen Theorien mit der gleichen Selbstverständlichkeit, als wäre es ein Kochrezept. Sie stützte das Kinn auf und lauschte aufmerksam.
»Man bemerkt es an den Brüchen und den Wiederholungen. Das gibt es nur bei ihm. Es ist ganz eigenartig. Aber daran kann ich ablesen, wie sein Code funktioniert.«
»Du meinst, welche Bewegungen ›phonemisch‹ sind«, fügte Giulietta hinzu.
»Genau. Und vor allem, welche das nicht sind. Ich habe ziemlich lange gebraucht, aber wenn man es einmal gefunden hat, ist es einfach. Damián hat der herkömmlichen Tango-Sprache eine zweite unterlegt: das Alphabet. Das Ergebnis gleicht den Gemälden von Arcimboldo. Man kann sich überhaupt nicht entscheiden, ob man Obst und Gemüse sieht oder ein Gesicht. Ein typisches
trompe-l’œil
. Damiáns Tangos sind auch ein
trompe- l’œil
. Schau her. Diese Nummernfolge: 21-2-25-2-16-28-13-26-2. Das ergibt
Paraluisa
.«
»Wieso?«, widersprach Giulietta. »Ich habe das nachgerechnet. Das geht nicht auf.«
»Doch«, sagte Lindsey. »Du musst bedenken, dass nicht alle Positionen möglich sind, und die unmöglichen weglassen, dann kommst du genau zu dieser Lösung. Nimm das a. Das ist der erste Buchstabe im Alphabet. Bei Damián ist es aber die Zwei. Das ist logisch. Eine Eins kann man nicht tanzen. Er müsste auf der Stelle stehen. Also codiert er das a numerisch als zwei. Von Position 1 geht er auf 3. Das ist kein normaler Schritt. Man geht nicht
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