Drei Minuten mit der Wirklichkeit
erklären; es war einfach nicht ihr Lebensgefühl. Es erstickte sie. Es war wie ein Atemholen im luftleeren Raum. Diese Musik mit ihren ewigen, nie eingelösten Versprechungen. Die Umarmungen, die keine waren, Berührungen, die niemals etwas anderes zu fassen bekamen als eine gleichermaßen unerfüllte Sehnsucht. Die Körper hingen alle aneinander wie Schiffbrüchige an einem Balken, der rat- und richtungslos im Meer trieb. Sie fühlte plötzlich eine gewaltige Abneigung gegen die trostlosen Bandoneonläufe, die klagenden Geigen, den Jammergesang und den typisch erstickten Schlussakkord, der stets wie ein letztes Wimmern klang, wie ein resigniertes Jawort, das man beim Einatmen spricht.
Lindsey redete unaufhörlich, machte sie auf Dinge aufmerksam, die ihr niemals aufgefallen wären. Aber je mehr die Kanadierin versuchte, ihr die Augen für das zu öffnen, was sich vor ihrem Tisch abspielte, umso weniger vermochte Giulietta wirklich davon wahrzunehmen. Etwas war plötzlich in ihr abgerissen. Es war nicht mehr da. Sie hatte das Gefühl, zu träumen und zu wissen, dass sie träumte: Lindseys Redeschwall, die Musik, die Fellinesken Figuren auf dem grauen Steinboden, die Lichterkette darüber, die Reklamefahne der Pizzeria
Nuevo Fenix
am anderen Saalende; die hochgezogenen Basketballkörbe und darunter einsame Damen an ihren Tischen, Großmütter eigentlich, die vielleicht in der Hoffnung gekommen waren, wenigstens für einen Tanz, wenigstens einen Augenblick lang eine ferne Erinnerung leben zu dürfen. Und gleichermaßen die Männer, die am Saalrand entlangschlichen, die Augen chamäleonartig auf der Suche nach einem suchenden Blick und zugleich jedem dieser Blicke ausweichend.
Und plötzlich hatte Lindsey sie bestürzt angestarrt. Giulietta reagierte nicht gleich. Sie war noch immer in dieser eigenartigen Stimmung gefangen. Sie gehörte hier nicht her. Nichts, aber auch gar nichts hier hatte mit ihrem wirklichen Leben zu tun. Und eben weil sie gar nicht wirklich hier war, erkannte sie die Überraschung, den Schreck und schließlich den Schock in Lindseys Augen zu spät, um mit eigenen Augen zu sehen, was sie nun nur noch durch den verstörten Gesichtsausdruck der Kanadierin erraten konnte. Wo hatte sie soeben noch hingeschaut? Zum Eingang. Dort war ihr Blick haften geblieben und dann direkt zu ihr gewandert. Sie hatte Lindseys Bestürzung gesehen. Aber sie war von ihren eigenen Gedanken zu sehr abgelenkt, um sofort die einzig logische Verbindung herzustellen. Und als ihr dies schließlich gelang und sie nach einem schier endlosen Augenblick den Kopf wandte und zum Eingang blickte, da sah sie eine Gestalt zwischen den Vorhängen verschwinden. Sie sah nur den Rücken der Person, doch auch ohne Lindseys Reaktion hätte sie ihn allein an seiner Bewegung sofort erkannt. Es gab keinen Zweifel, wer dort soeben den Tanzsaal betreten und sofort wieder verlassen hatte. Und auch dies war der Bewegung zu entnehmen: diese Umkehr war abrupt und endgültig.
»… Giulietta, das war … wieso …«, stammelte Lindsey, nervös lächelnd, noch immer fassungslos. Giulietta sprang auf. Dort an der Tür war soeben Damián erschienen. Sie musste sich das innerlich vorsagen, um überhaupt weitergehen zu können. Sie eilte quer über die Tanzfläche zwischen den tanzenden Paaren hindurch auf den Eingang zu. Sie ignorierte die missbilligenden Blicke, die ihr folgten. Kurzzeitig hörte sie nicht einmal mehr die Musik. Sie spürte nur eine seltsame Mischung aus Übelkeit und Hass. Er war dort. Am Eingang. Er hatte sie gesehen. Und er hatte auf der Stelle kehrtgemacht.
Etwa so weit war sie mit ihren Überlegungen gekommen, als sie die erste Tischreihe erreicht hatte. Jetzt begann der Eingang zu verschwimmen. Sie wischte sich die Augen, aber die brannten. Sie erreichte den Eingang, schlug die schmierige Decke zur Seite und stürmte in die Vorhalle. Sie stieß mit einem hereinkommenden Paar zusammen, entschuldigte sich mit einem atemlosen
perdón
und wurde durch eine soeben zufallende Tür zu ihrer Rechten abgelenkt. Hätte sie ihn sonst noch erreicht? Sie riss die Tür auf, ging einige Schritte in den dahinter befindlichen Gang hinein und fand sich plötzlich einem Mann in weißer Schürze gegenüber, der ein Tablett mit Teigtaschen aus einem Kühlschrank zog. Er schaute sie an, lächelte und machte Anstalten, das Wort an sie zu richten. Giulietta machte kehrt, lief wieder in die Vorhalle zurück und von dort direkt auf die Straße hinaus.
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