Drei Minuten mit der Wirklichkeit
und einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und bat Giulietta um ihre Berliner Adresse. Während sie schrieb, lief Lindsey zu dem wartenden Taxi und sprach kurz mit dem Fahrer. Der stellte den Motor ab und schaltete den Warnblinker ein. Lindsey kam zurück, reichte Giulietta eine Karte mit ihrer Adresse und nahm Giuliettas Zettel entgegen.
»Du fliegst wirklich morgen?«, fragte sie dann.
»Ja. Ich werde es jedenfalls versuchen … Nieves hat wohl Recht. Tango liegt mir nicht. Und Tangotänzer erst recht nicht.«
Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut.
»Aber ich würde trotzdem gerne dein Buch lesen, wenn es fertig ist.«
»Versprochen. Ich schicke es dir.«
Sie griff erneut nach Giuliettas Hand, drückte sie und umarmte sie schließlich kurz und fest.
»Da waren zwei Männer, sagtest du? Was für Männer?«
Lindsey schüttelte den Kopf. »Nein, das war Einbildung.«
»Einbildung.«
»Ja … vielleicht sehe ich dich mal tanzen, im Ballett meine ich?«
»Ja. Vielleicht.«
»Gute Reise.«
»Danke. Auch für den Mate und so …«
Lindsey ging ein paar Schritte rückwärts, steckte die Hände in die Taschen ihrer Jacke, legte den Kopf schief und warf ihr noch einen Kuss zu. Dann drehte sie sich um und verschwand in ihrem Taxi, ohne sich noch einmal umzublicken. Giulietta schaute dem Wagen hinterher, bis er um die nächste Ecke gebogen war. Dann entriegelte sie das Portal, trat durch den Eingang und lehnte sich erschöpft von innen gegen die Eisentür. Sie schloss die Augen und sah Damiáns Gestalt an dem dunkelbraunen Vorhang vorbeihuschen. Und sie sah zwei Männer, die sich erhoben, um ihm zu folgen.
Einbildung?
Als sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer entgegennahm, reichte ihr der Portier einen wattierten Umschlag. FedEx, stand darauf. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht. Sie riss den Umschlag auf und zog eine Videokassette heraus. Dann suchte sie nach einer Nachricht von Lutz, fand jedoch keine. Sie steckte die Kassette in ihre Handtasche und reichte dem Portier den leeren Umschlag zurück.
»Basura?«, fragte er und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Basura«, erwiderte sie müde und fühlte sich in dieser neuen Vokabel bestens aufgehoben.
Müll.
22
I n jener Nacht kam der Wind.
Es war kein Wind, wie sie ihn kannte. Dieser Wind sprach. Und was er sagte, war unheimlich. Er fuhr zwischen den Häuserschluchten hindurch wie die Tatze eines Raubtiers. Nur das Tier selber war nicht sichtbar. Aber man spürte seine Gegenwart, weit entfernt, irgendwo dort unten im endlosen, menschenleeren Süden. Das war kein Wind wie in den Märchen, kein lustig aufgeblasenes Wolkengesicht, das Blätter oder Schmetterlinge vor sich hertreibt. Dieser Wind war seelenlos und böse. Er schnitt, keuchte, zerrte, fauchte, rasselte und war mit nichts zu versöhnen, das sich ihm in den Weg stellte. Die ganze Nacht klapperte das Fenster unter wütenden Schlägen. Einmal pfiff und donnerte es gleichzeitig so heftig, dass Giulietta sich in der sicheren Erwartung von zersplitterndem Fensterglas unter die Bettdecke flüchtete. Dann lag sie stundenlang wach, jedem neuen Windstoß wie einer körperlichen Züchtigung entgegenbangend, unfähig, Schlaf zu finden.
Sie saß zusammengekauert an die Wand gelehnt, die Zehen in das verschwitzte Laken gekrallt. Irgendwo dort draußen schlug ein losgerissenes Kabel gegen ein Rohr. Oder knallte ein Fensterladen gegen eine Hausmauer. Oder nagelte ein Dämon alle Uhrzeiger der Stadt mit lauten Hammerschlägen auf ihrem Zifferblatt fest. Denn die Zeit verging nicht. Es wollte nicht Morgen werden. Und dazwischen fauchte dieser Wind vom Rand der Erde durch diese Stadt am Ende der Welt.
Die Erinnerung spielte ihr immer die gleichen Bilder vor, aber sie ergaben keinen Sinn. Damiáns Gestalt dort am Eingang war ein Schock gewesen. Nicht nur, weil er davonlief, kaum dass er sie gesehen hatte. Das war jetzt nur noch ein weiteres Rätsel. Ein verfluchtes Rätsel, das sie bald nichts mehr anging. Damit würde sie schon irgendwann fertig werden. Der Schock war gewesen, was der Zwischenfall in ihr ausgelöst hatte. Sie war diesem Mann verfallen wie am ersten Tag ihrer Begegnung. Sie war ihm gegenüber völlig hilf- und wehrlos. Was hatte er nur, das sie immer wieder zu ihm hinzog? Sie empfand eine solche Sehnsucht, ein so starkes Verlangen nach ihm. Doch es war eine Empfindung, die sie nicht begriff und die sich überhaupt nicht in dem erschöpfte, was sie als Mann und
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