Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Frau verbunden haben mochte. Es war etwas ganz anderes. Sie konnte in sich hineinhören, so viel sie wollte, sie fand keine Erklärung dafür. Was war nur an ihm, das sie bis hierher gebracht hatte, in die winddurchtobte, melancholische Hauptstadt aller Traurigkeit? Was war in der halb verfallenen Wellblechhalle geschehen, als sie aufgesprungen war, um das Rätsel einzufangen, das sie um den Verstand zu bringen drohte?
Endlich begann das Gewitter, das der grässliche Wind die halbe Nacht hindurch angekündigt hatte. Eine Regenwand bäumte sich vor dem Fenster auf, der flüssige Schweif des davoneilenden Monstrums aus dem Süden. Giulietta öffnete die Balkontür, lauschte dem niedergehenden Regen und sog gierig die kühle, frische Nachtluft ein. Regen. Was für ein herrliches Wunder war Regen!
Um halb fünf Uhr morgens hatte sie das letzte Mal auf die Uhr geschaut. Als sie wieder zu sich kam, war heller Tag. Sie staunte wie schon am ersten Tag über das Arsenal von Tellern und Tässchen, die im Eckcafé für ein simples Frühstück auf ihrem Tisch erschienen, bezahlte schließlich an der Theke, da der Kellner auch nach dreimaligem Winken keine Zeit gefunden hatte, an ihren Tisch zu kommen, und hätte andernfalls das Foto in der Zeitung wahrscheinlich gar nicht gesehen.
El Clarin
lag neben einer Reihe von silbernen Zuckerdosen auf dem Tresen und berichtete in großen Lettern von einem Treffen zwischen Vertretern des internationalen Währungsfonds und der argentinischen Regierung. Das Foto sah aus wie bei solchen Anlässen üblich: Herren in dunklen Anzügen, die sich in irgendeinem Saal zu Gesprächen versammeln. Im Vordergrund zwei Männer, die sich die Hände schütteln und in die Kamera lächeln. Daneben und dahinter ein Tross von Begleitern, deren Namen zum Teil unter dem Foto genannt waren. Es war einer dieser Namen, der ihr ins Auge sprang: Fernando Alsina, Staatssekretär für Wirtschaftsfragen.
Sie griff nach der Zeitung. Sein Name stand an dritter Stelle. Also war er die zweite Person neben dem Präsidenten. Sie betrachtete den Mann. Er lachte nicht. Er schaute auch nicht in die Kamera, sondern eher in sich selbst hinein. Er stand sehr aufrecht. Seine beträchtliche Leibesfülle unterstrich noch die Autorität, die er allein durch seine Haltung ausdrückte. Er überragte die anderen Anwesenden nicht, aber nahm dennoch überdurchschnittlich viel Raum auf dem Foto ein. Seine breite Stirn glänzte ein wenig. Dunkler Anzug mit goldenen Knöpfen. Hellblaues Hemd. Dunkelrote Krawatte mit beigen Punkten. Ein Rest von Haaren verlief sich in einem schwarzen Haarkranz um den mächtigen Schädel. Giulietta blätterte um und suchte nach weiteren Bildern. Auf Seite zwei und drei fand sie Statistiken über die Auslandsverschuldung, Tilgungsdiagramme, ein Foto des amerikanischen Präsidenten mit einer Überschrift, die sie nicht enträtseln konnte. Außerdem eine Karikatur, die sie ebenso wenig verstand. Von Fernando Alsina gab es kein weiteres Foto.
Sie suchte den nächstbesten Kiosk auf und kaufte alle Tageszeitungen, deren sie habhaft werden konnte.
Pagina 12
und
La Nación
hatten das gleiche Foto in Schwarzweiß gedruckt. In den anderen Blättern gab es keine Gruppenbilder. Fernando Alsina war nicht abgebildet.
Sie riss die Seiten aus
El Clarin
und
Pagina 12
heraus, warf den Rest weg und steckte die Ausschnitte ein. Dann machte sie sich auf den Weg ins Zentrum. Ihr Vater müsste schon eingetroffen sein. Wenn nicht, würde sie in der Lobby seines Hotels auf ihn warten. Sie hatte hier nichts mehr verloren. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihrem Vater sagen sollte. Sie konnte nicht erklären, warum sie das alles getan hatte, aber ebenso wenig würde sie sich dafür rechtfertigen. Es war notwendig gewesen. Ein Irrsinn vielleicht. Aber ein notwendiger. Sie lief das erste Mal mit einem leichten Gefühl von Befreiung durch die Straßen. Ein Druck war von ihr abgefallen. Sie war durch einen Irrgarten gegangen und hatte zwar den Ausgang nicht gefunden, dafür jedoch den Irrgarten zum Verschwinden gebracht. Er war kleiner geworden, so klein, dass sie ihn in sich aufnehmen und aufbewahren konnte, ohne von ihm gefangen zu sein. Sie würde ihn mit sich herumtragen, vielleicht für immer; aber die Straße vor ihr war wieder offen.
Herr Alsina war hier ein sehr wichtiger Mann. Frau Alsina suchte sie auf, um mit ihrem Adoptivsohn in Kontakt zu kommen. Damián fiel in Berlin aus heiterem Himmel über ihren Vater her und versteckte
Weitere Kostenlose Bücher