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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Kontrolle entzogen hatte. Und Damián? Weiß der Himmel, was in ihm vorgegangen war. Warum war er in ihrer Wohnung gewesen? Ein schlechtes Gewissen? Reue über den verpatzten Auftritt? Oder wollte er nur allein sein? Ihre Nähe spüren? Der Gedanke schnürte ihr den Hals zu. Auf jeden Fall war er sicher auch nicht ganz bei sich gewesen. Und diese beiden Spannungen hatten sich entladen. In ihrer Wohnung. Das war alles. Sie würde jetzt zuhören, jede Einzelheit aus ihm herausholen. Aber sie ahnte längst, was sich dort abgespielt haben musste.
    Ihre heftige Reaktion hatte ihrem Vater kurz die Sprache verschlagen. Er trank einen Schluck Kaffee und mied ihre Augen.
    »Ich habe ein paar schwierige Tage hinter mir«, sagte Giulietta ruhig. »Zum Teil bin ich selbst schuld daran. Dafür mache ich dir auch keine Vorwürfe. Aber ich verlange, dass du mich endlich als erwachsenen Menschen behandelst. Warum hast du mir in Berlin nicht erzählt, was wirklich gewesen ist? Warum?«
    Er hob abwehrend die Hände. »Ich sehe es ja ein. Das war falsch. Aber lass mich doch vielleicht erst einmal ausreden.«
    Seine kräftigen Unterarme fielen ihr auf. Er war ein hervorragender Tennisspieler. Sein körperlicher Zustand war überhaupt erstaunlich. Ein Ausbund an Gesundheit. Im Gegensatz zu ihr, mit ihren ewigen Magenkrämpfen, Sodbrennen, Verspannungen und Verstauchungen. Mittwochs war immer Wiegetag gewesen. Also hatten sie alle ab Sonntag gefastet und ab Mittwoch gefressen. Sie spürte den Rhythmus noch immer. Auch wenn sie versuchte, normal zu essen. Normal? Was war bei ihr schon normal? Unregelmäßige Regelblutungen und Fußknöchel, die aussahen, als habe jemand darauf herumgehämmert.
    »Er stand sofort auf, verschwand im Bad und kam kurz darauf angekleidet wieder heraus. Ich fragte ihn, wo du seist. Er gab mir eine ziemlich patzige Antwort. Das hat mich wütend gemacht. Ich war eben schon den ganzen Tag in Sorge, und dann finde ich anstelle von dir diesen Typen vor. Nun ja, ein Wort gab das andere, und plötzlich fiel er über mich her, überwältigte mich und band mich auf einen Stuhl. Er ist einfach ausgerastet, und als es einmal passiert war, wusste er wohl nicht, wie er das wieder rückgängig machen sollte.«
    »Was hast du ihm gesagt?«
    »Das weiß ich nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, was er gesagt hat. Er sagte ›Du suchst wohl deine Kleine, was?‹.«
    »Er hat dich geduzt?«
    »Ja. Er wollte mich provozieren. Darauf folgten ein paar obszöne Bemerkungen, die ich jetzt nicht wiedergeben will. Er wurde aggressiv, erging sich in irgendwelchen abstrusen Behauptungen über dekadente Europäer und, na ja, was soll man dazu schon sagen.«
    Giulietta hatte Mühe zuzuhören, aber sie riss sich zusammen. Sie musste da jetzt durch. Sie war zwischen zwei kranke Männer geraten.
    »Du kennst mich ja. Wenn mich jemand provoziert, werde ich unangenehm. Und dann ist er einfach ausgerastet und auf mich losgegangen. Wie ein Verrückter. Er hat mich festgebunden und mir die halbe Nacht wirres Zeug erzählt. Insofern stimmt es, was ich der Polizei gesagt habe.«
    Giulietta schaute zur Seite. Ihr Vater fügte noch irgendetwas hinzu, aber sie hörte vorübergehend nichts. Sie wollte alles wissen, Einzelheiten. Aber gleichzeitig wurde ihr fast übel angesichts der Vorstellung dessen, was sich zwischen den beiden abgespielt hatte. Warum so? Warum diese Inszenierung? Ihr Vater in ihrem Zimmer auf einem Stuhl festgebunden wie eine Geisel? Damit sie ihn so finden würde. War das nicht gegen sie gerichtet? Wie ein Ausspucken vor ihren Füßen? Dieses chauvinistische Arschloch! Deshalb lief er vor ihr weg wie vor einer Pestkranken. Wahrscheinlich glaubte er, ein Teil der perversen Neigung ihres Vaters habe auf sie abgefärbt, habe ihre Reinheit beschmutzt. Dieses miese kleine Latinoarschloch.
    »Was hast du ihm gesagt?«, fragte sie erneut.
    »Er hat mich beleidigt und beschimpft …«
    » DU , was hast DU IHM gesagt?«
    Er erschrak über ihre heftige Reaktion, schwieg und schaute zur Seite.
    »Du hast ihm gesagt, er soll die Finger von mir lassen, nicht wahr?«
    Er nickte.
    »Hast du ihn bedroht?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Nicht direkt, aber ein wenig, ja.«
    »Warum? Warum tust du so etwas?«
    »Ich weiß, dass das falsch war.«
    » FALSCH . Verdammt noch mal …«
    »… es war die Situation. Er hat mich provoziert …«
    Sie drehte die Augen zum Himmel. »Und wie oft wird sich diese Situation noch wiederholen. Jedes Mal, wenn

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