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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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du es mir dann nicht gesagt?«
    Lindsey schnaufte laut, sagte aber nichts.
    »Und?«
    »Willst du eine Geschichtsstunde von mir haben?«
    »Warum bist du so aggressiv?«
    »Ich bin nicht aggressiv. Aber stell dir einmal vor, ich käme dich in Berlin besuchen, wir fahren nach Polen, kommen zufällig an einem Schild vorbei, auf dem Auschwitz geschrieben steht, und ich fragte dich: Giulietta, was ist Auschwitz? Was würdest du da von mir denken, he?«
    Auschwitz?
    »Aber … ich verstehe nicht …« stammelte sie. »Wieso … ich meine …«
    »Eben«, unterbrach sie Lindsey. »Du verstehst hier gar nichts. Weil du nichts über dieses Land weißt. Fahr nach Hause, Giulietta. Ich mag dich sehr, wirklich. Aber hier hast du nichts verlor …«
    Sie knallte den Hörer auf die Gabel und blieb sekundenlang mit geschlossenen Augen stehen. Dreimal verfluchte arrogante Zicke. Sie wartete noch eine Minute, bis sie sich halbwegs wieder gefangen hatte, ging mit finsterer Miene an die Kasse, knallte einen Peso auf die Ablage und kehrte in die Eingangshalle zurück.

27
    I hr Vater betrachtete sie verwundert, als sie zurückkam, war jedoch klug genug, nicht weiter nachzufragen, warum sie so gereizt aussah.
    »Gate 4. Dort drüben«, sagte er nur und wies in die entsprechende Richtung. Sollte sie ihn fragen, was er am Donnerstag gemacht hatte? Sie bewegten sich auf die Kontrollstelle zu, vor der sich bereits eine Schlange gebildet hatte. Sie stellten ihre Taschen auf das Fließband der Röntgenmaschine, ihr Vater legte Schlüssel, Kleingeld und Mobiltelefon in eine Plastikschale und ging ohne ein Piepsen auszulösen durch den Metalldetektorbogen.
    Giulietta folgte, noch immer mit leicht gerötetem Kopf und eisigem Blick. Sie nahm ihre Sachen vom Band und bewegte sich langsam auf die Passkontrolle zu. Ihr Vater ging ein paar Schritte vor ihr her. Dann drehte er sich kurz zu ihr um, blieb stehen, lächelte sie an und wartete, bis sie herangekommen war. Als er bemerkte, dass ihre Miene sich nicht änderte, zog er kurz die Augenbrauen hoch, sagte jedoch nichts, sondern schaute wieder nach vorne.
    Vor der Passkontrolle staute sich der Strom der Reisenden ein wenig. Giulietta blickte über die Köpfe der Wartenden hinweg und beobachtete die Vorgehensweise der Zollbeamten, wie sie die Pässe und die Bordkarten entgegennahmen, die Dokumente musterten, den Einreisestempel suchten, den Ausreisestempel daneben anbrachten und die Personen weiterwinkten. Wenn sie hier hindurch wäre, gäbe es kein Zurück mehr. Sie biss sich nervös auf die Lippen. Noch sechs Passagiere vor ihnen. Plötzlich war da noch ein Gedanke, der sie unschlüssig verharren ließ: die Staatsoper. Wenn sie jetzt nicht einstieg, wäre sie die Stelle los. Nur noch ein paar Schritte geradeaus, und alles wäre in Ordnung. Morgen um diese Zeit wäre sie in Berlin und am Montag im Trainingssaal. Verdiana und Nussknacker. Eine Woche hatte die Direktorin ihr zugestanden. Dass das Ultimatum endgültig war, wusste sie. Sie bräuchte sich dort erst gar nicht mehr blicken zu lassen, wenn sie am Montag nicht zurück wäre.
    Noch vier Passagiere. Sie schaute hinter sich, an dem Röntgengerät vorbei in die Eingangshalle. War dort nicht jemand, der sie beobachtete? Ein bärtiger Mann? Nein. Sie stand wirklich kurz davor, verrückt zu werden. Sie schaute wieder nach vorne, auf ihren Vater. Aber ihr Blick gehorchte ihr nicht. Ihr Augen wanderten über ihn hinweg und sahen nur Einzelheiten: eine schlecht rasierte Stelle an seinem Kinn, den herrischen Adamsapfel, die unschönen Lippen, den kantigen Unterkiefer mit den leicht geröteten Unreinheiten der Haut. Doch vor allem sah sie seine Fürsorglichkeit. Diese für sie jetzt unerträgliche Mischung aus Zufriedenheit, Selbstsicherheit und Kontrolle. Sie ertrug es kaum, ihn anzuschauen. Zwölf Stunden neben ihm im Flugzeug sitzen? Undenkbar.
    Noch zwei Passagiere. Giulietta drehte sich erneut um. Der bärtige Mann war nicht mehr zu sehen. Sie ging einen Schritt nach vorne und schaute zu, wie der Zollbeamte den Pass des Fluggastes vor ihrem Vater abstempelte. Dann war er an der Reihe. Er legte seine Dokumente auf die Ablage und nahm Haltung an. Wie formell er dabei wirkte. Fast wie ein Soldat. Der Zollbeamte blätterte in seinem Pass herum und suchte den Einreisestempel. Dann stutzte er und sagte etwas auf Spanisch. Ihr Vater schüttelte den Kopf und sagte: »Sorry …?«
    Giulietta unterbrach ihn. »Papa, hältst du bitte kurz meine

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