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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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aber es war nur ein Zettel, auf den ihr Vater irgendetwas notiert hatte. Jetzt sah sie auch, was. Es war die Telefonnummer der Air France in Buenos Aires. Und noch eine Notiz, die sie nicht entziffern konnte. Ein Straßenname oder so etwas. Aber was war nur mit diesem Zettel? Sie betrachtete ihn genauer. Plötzlich hatte sie das Gefühl, zu fallen. Sie spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Dieser Zettel. Sie schaute in Richtung der Toiletten, aber ihr Vater war noch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Giulietta spürte, wie ihr der Schweiß aus den Achselhöhlen seitlich über den Körper hinablief. Sie schaute noch einmal zur Toilettentür, versicherte sich, dass er nicht gerade herauskam, und hielt mit einer raschen Bewegung den Zettel gegen das Licht. Das Wasserzeichen war gut sichtbar. Große, geschwungene Lettern. MDA . Maria Dolores Alsina. Ihr Vater hatte Frau Alsina getroffen!
    Sie packte die Dokumente zögernd wieder ein, setzte sich aufrecht hin, schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Sie durfte jetzt nicht handeln. Nicht gleich. Sie zwang sich, an nichts zu denken, obwohl ihr eine Flut von Gedanken durch den Kopf schossen. Ruhe, sagte sie sich. Ordnung. Aber da war keine Ordnung. Sie spürte den Kloß in ihrer Kehle, den Druck auf ihrer Brust, den beginnenden Krampf in ihrem Magen. Aber sie ließ es nicht zu. Atme! befahl sie sich. Eine Sache musste sie tun. Die eine, richtige Sache. Und sie wusste genau, was sie tun würde. Und dafür musste sie ihre Beherrschung wieder finden. Jetzt gleich. Bevor dieser hinterhältige Lügner, der sich ihr Vater nannte, aus der Toilette herauskam. Hasse ihn nicht jetzt. Nicht jetzt gleich. Dafür blieb noch genug Zeit. Sie durfte sich nichts anmerken lassen. Er würde das kleinste Anzeichen bemerken, ausgekocht und hinterhältig wie er war. Sie durfte jetzt gar nicht nachdenken. Sie musste handeln.
    »Alles klar?«, fragte er.
    Sie lächelte ihn an, reichte ihm die Dokumente und erhob sich.
    »Gehen wir?«
    »Wie viel Zeit haben wir noch?«, erwiderte sie.
    Er schaute auf die Uhr. »Vierzig Minuten.«
    »Ich möchte noch einmal telefonieren. Willst du schon vorgehen?«
    Er schaute sie überrascht an.
    »Lindsey, eine Freundin«, ergänzte sie. »Ich will mich noch von ihr verabschieden. Ich habe sie gestern nicht mehr erreicht. Dauert nicht lange.«
    Er setzte sich auf die Bank. »Gut. Ich warte hier.«
    Sie reichte ihm die Reisedokumente und durchspähte die Halle nach einer Telefonzelle.
    »Neben den Toiletten sind Kabinen«, sagte er aufmunternd. »Hast du noch Geld?«
    »Hm. Bis gleich.«
    Sie fand die Kabinen problemlos. Nach dem dritten Klingeln hatte sie Pablo am Apparat.
    »Giulietta. How are you?«
    »Fine. Is Lindsey there?«
    »Sie schläft noch. Soll ich sie wecken?«
    »Ja. Bitte.«
    Der Vorgang nahm fast fünf Minuten in Anspruch. In der Ferne hörte sie Vogelgezwitscher. Sie schloss die Augen und verbrachte die Zeit in Pablos Wohnküche, den Blick auf den Garten gerichtet, die Liegestühle, den fremdartigen Strauch mit den riesigen Blättern.
    »Giulietta?«
    »Bonjour.«
    »Wo bist du?«
    »Am Flughafen.«
    »Ah. Ich dachte du wärst gestern geflogen!«
    »Nein. Désolée. Ich bin noch hier, aber nicht mehr lange.«
    »So meine ich das doch nicht. Schön, dass du anrufst.«
    »Ich wollte sagen, … es war so komisch am Donnerstagabend.«
    »Vergiss es. Geht’s dir besser?«
    »Hast du die Kassette gefunden?«, fragte Giulietta.
    »Ja, habe ich.«
    »Und? Was hat er in Berlin getanzt? Hast du es herausgefunden?«
    Lindsey zögerte kurz. Dann sagte sie: »Er hat das Lied getanzt.«
    »Renaceré?«
    »Ja. Renaceré. Die Darbietung ist ein einziges Desaster. Arme Nieves.«
    »Warum tut er das?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Giulietta schwieg einen Augenblick. Lindsey spürte ihr Zögern und fuhr fort: »Giulietta, ich glaube, du tust genau das Richtige.«
    »Lindsey, ich wollte dich etwas fragen.«
    »Schieß los.«
    »Was heißt ESMA ?«
    Pause.
    »Lindsey. Ich bin dort gewesen. Ich war in der Calle Lambaré. Und ich war an dieser Kaserne.«
    »Mon Dieu, mais …«
    »Warum hast du mir vor ein paar Tagen nicht gesagt, dass du wusstest, was diese Begriffe bedeuten?«
    »Ich? Ich wusste überhaupt nichts. Ich meine, was sagst du, Lambaré ist eine Straße? Nie davon gehört.«
    »Aber ESMA . Das sagte dir doch etwas, oder?«
    Pause.
    »Lindsey?«
    »Ja. Natürlich, verdammt noch mal. Jeder hier weiß, was ESMA bedeutet.«
    »Warum hast

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