Drei Minuten mit der Wirklichkeit
an.
Damián!
Doch wie um alles in der Welt sah er aus? Er zog sie wie ein ungehöriges Mädchen einige Meter in Richtung Flughafenhalle. Giulietta war völlig unfähig, irgendetwas zu tun. Sie spürte ein Rauschen in den Ohren. Alles verlangsamte sich. Sie stolperte und wäre fast gestürzt, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. Damián hielt inne, schaute sie an. »Du musst hier weg«, sagte er atemlos. »Geh. Geh nach Berlin. Ich flehe dich an!«
Dann begann sie zu zittern. Ihre Lippen bebten. Plötzlich krallte sie sich an seinen Haaren fest. Sie wollte ihm wehtun, ihn ohrfeigen. Er fing ihre Hände ab und hielt sie fest. Sie sah ihn kaum richtig durch die Tränen, die ihr in die Augen schossen. Sie keuchte. Doch sie brachte kein Wort heraus. Sie versuchte, sich loszureißen. Doch auf einmal umarmte er sie so fest, dass ihr fast die Luft wegblieb. Wie er roch? Er stank nach Benzin. Ein scharfer Schweißgeruch stieg aus seinen Achselhöhlen auf. Das Einzige, das sie sofort wieder erkannte, war seine Haut, das Gefühl ihrer Wange an der seinen, und erst allmählich andere Einzelheiten, die keinen Namen hatten.
»Wo ist dein Vater?«, fragte er plötzlich.
Sie machte eine Handbewegung in Richtung Eingangshalle.
»Schnell«, sagte er. »Komm.«
Sie hatte keine Ahnung, was sie tat. Sie hatte überhaupt keine Kontrolle mehr. Sie ging im Laufschritt neben ihm her, und als er zu laufen begann, lief sie einfach mit. Damián drehte sich mehrfach um. Sie blickte auch einmal hinter sich, sah jedoch niemanden.
Sie liefen eine enge Wendeltreppe hinauf und eilten im dritten Stock zwischen geparkten Autos hindurch. Damián rannte auf einen staubigen und zerbeulten roten Peugeot zu, zwängte sich hinter das Lenkrad, öffnete die Beifahrertür und ließ sie einsteigen. Sie saß kaum, da drehte Damián den Motor hoch, legte den Gang ein und schoss mit quietschenden Reifen aus der Parklücke. Er fuhr auf die Sperre zu, zog ein Parkticket und einen Geldschein aus der Hemdentasche und reichte beides dem Wärter. »’ta bien, anda«, stieß er ungeduldig hervor. Die Schranke glitt hinauf. Giulietta starrte verstört vor sich hin. Damián gab Gas.
»Schnall dich bitte an«, sagte er.
Sie schüttelte stumm den Kopf.
» SCHNALL DICH AN «, schrie er.
Sie fuhr zusammen und tat, was er sagte.
»Und hör auf zu heulen, ja?«, sagte er gereizt.
Sie presste die Lippen aufeinander. Ihr Kopf funktionierte nicht mehr. Sie hatte den Eindruck, sich dabei zuzuschauen, Giulietta zu sein. Ein jämmerliches Schauspiel. Diesen Mann hatte sie eine Woche lang gesucht. Warum bloß? Wo kam er plötzlich her?
Damián fuhr in halsbrecherischem Tempo die Straße entlang. Giulietta brachte kein Wort heraus. Teils aus Angst vor dieser Geschwindigkeit, teils aus Furcht vor seinen völlig unberechenbaren Reaktionen. Sie wusste nicht einmal, was für eine Frage sie zuerst hätte stellen sollen. Was fragte man einen Irren? Warum ging sie überhaupt mit ihm?
Sie bogen auf eine Landstraße und schließlich auf Sandpisten ab, die durch allerlei düstere Ansammlungen von Häusern führten, von denen sie beim besten Willen nicht hätte angeben können, ob sie zu einem Dorf, einer Stadt, einem Stadtteil oder einer Halluzination gehörten. Damián konzentrierte sich auf das Fahren und sah kein einziges Mal zu ihr hin. Er wich Schlaglöchern aus, hupte Hunde und Katzen von der Fahrbahn, kurvte durch halb verfallene Viertel, die allmählich wieder ein wenig wie Außenbezirke der Hauptstadt aussahen. Zweimal klingelte ein Mobiltelefon, und Damián redete in rasend schnellem Spanisch auf irgendjemanden ein.
Einmal las sie auf einem zerbeulten Emailleschild einen Straßennamen. Avenida Perón. Einstöckige Häuser, von denen kaum eines zu Ende gebaut war, säumten die Straße. Windschiefe Läden behaupteten sich zwischen Abfallmulden. An einem Gleisübergang war Damián gezwungen, Schritttempo zu fahren. Zwischen den Gleisen hatte sich ein Getränkeverkäufer niedergelassen. Daneben wucherte ein unfertiges Bahnwärterhäuschen aus dem morastigen Boden. Halb abgerissene Wahlplakate flatterten im Wind. Ein kleiner Junge turnte in dem Häuschen herum und hangelte sich an Eisenträgern entlang, die aus dem Beton ragten.
»Wohin bringst du mich?«
»In Sicherheit.«
»Bin ich in Gefahr?«
»Nein. Mit mir nicht.«
»Mit wem dann?«
»Mit dir selber.«
Sie schaute ihn von der Seite an. Er erwiderte ihren Blick kurz. Er sah furchtbar aus. Er war unrasiert, was
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