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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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das, was sie gerade getan hatte. Doch sie bereute es nicht.
    »Ich gebe dir fünf Minuten, dich zu erklären, du Scheißkerl«, sagte sie dann. »Deine ganze Tango-Scheiße interessiert mich einen Dreck. Und deine Kindheit oder was auch immer dich versaut hat, ist mir auch egal. Verstehst du. Scheißegal. Ich bin kein Therapeut. Du hast mich so beschissen wie noch nie jemand in meinem Leben. Und ich will wissen, warum. Ich will wissen, was du mit meinem Vater gemacht hast. Und erzähle mir nichts von irgendwelchen Neurosen oder sonst was. Du bist ein schlauer Bursche. Das weiß ich von Ortmann.«
    Die Nennung des Namens ließ ihn die Stirn runzeln.
    »Und wegen irgendetwas tickst du nicht mehr ganz richtig. Das weiß ich auch.«
    Jetzt brach wieder ihre Stimme. Sie bekam kaum Luft. Jeder Satz war wie ein Würgen, ein Versuch, zwischen Schluchzern und Atemholen verständliche Wörter in diesen Kopf dort unten hineinzuhämmern, damit er endlich eine Antwort geben würde.
    »Ich will nichts hören von deinem beschissenen Adoptivvater oder deiner neurotischen Mutter, ja. Ich will DICH hören. Warum bist DU so ZU MIR ? Warum tust DU MIR das alles an, verdammt noch mal?«
    Er hob die Hand, um sie zu unterbrechen, aber sie konnte plötzlich nicht mehr aufhören. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. All die unvollendeten Gedanken der letzten zehn Tage, ihre Fragen, Vermutungen, ins Nichts führenden Überlegungen quollen aus ihrem Mund. Sie wollte das alles nicht mehr haben. Er sollte es jetzt nehmen. Er. Der da, der für das alles verantwortlich war. Sie ging langsam in die Knie, redete und schluchzte jedoch weiter. Sie hielt sich die Hände an den Kopf, aber der Redestrom versiegte einfach nicht. Er lauschte stumm, schaute sie an, die Backen knallrot von den Schlägen, die sie ihm zugefügt hatte, die Augen voller Furcht und Zärtlichkeit. Zärtlichkeit? Warum schaute er sie so an? Warum zum Teufel sagte er nichts?
    »Rede doch endlich«, wimmerte sie immer wieder. »Bitte, bitte, sag etwas, Damián.«
    Die letzte Silbe war wie ein kleiner Aufschrei. Er nahm seinen Kopf in beide Hände und schüttelte ihn. »Ich kann nicht«, flüsterte er. »Nicht jetzt. Nicht hier.«
    »Wann dann?«, schrie sie. »Wo? Und was überhaupt?«
    Er schüttelte wieder den Kopf.
    »Morgen«, sagte er dann. »Nicht jetzt. Nicht heute. Ich kann nicht.«
    »Wenn du mir nicht antwortest, dann gehe ich. Verstehst du?«
    Sie kroch auf Händen und Füßen auf ihn zu.
    »Mach das nicht. Lass mich nicht so hängen, verdammt noch mal.«
    Sie zog an seinem Bademantel wie an einem Stück toten Fell. Er hob die Hand und strich über ihr Haar. Sie fegte seinen Arm zur Seite und wich zurück. Dann, mit einem schnellen Griff, zog sie die Decke von der Couch, kauerte sich wieder gegen die Wand, vermummte sich in die Decke und starrte ihn feindselig an. Was geschah nur mit ihr? Was richtete dieser Mann in ihr an? Geh jetzt sofort, sagte sie sich. Er ist gestört, komplett gestört. Aber das stimmte jetzt nicht mehr. Vorhin am Flughafen, im Auto, auf der Fahrt hierher, da hätte sie ihren Kopf verwettet, dass Damián verrückt geworden war. Aber jetzt, so wie er auf dem Boden vor der Couch saß, schmal und müde, seine ganze Erscheinung zusammengesunken und von allem Zauber beraubt durch wer weiß welchen Kummer, wie konnte sie ihn für verrückt halten, ihn hassen?
    Dann begann er zu weinen. Stumm. Lautlos. Ohne Scheu. Ohne Vorbehalt. Er schaute sie an, wie er sie immer angeschaut hatte. In Berlin, in ihren schönsten Nächten. Sie wehrte sich dagegen, hielt ihren finsteren Blick aufrecht. Aber sie wusste, dass sie machtlos dagegen war. Sie liebte ihn. Sie war verrückt. Nicht er. Nach allem, was er getan hatte, nach all den Lügen, dem Misstrauen, den Verstellungen … denn was sonst war es denn gewesen.
    »Warum bist du weggelaufen … vorgestern … du … warum?«
    Keine Antwort. Nur sein tränenüberströmtes Gesicht und Augenlider, die sich kurz schlossen, wie um einen kurzen Schmerz zu ertragen.
    »Warum rechtfertigst du dich nicht wenigstens? … Komm, sag doch, was dir nicht passt. Kann ich nicht wenigstens erfahren, warum in Gottes Namen du vor mir weggelaufen bist? Wenigstens das? Ist das so schwer?«
    Er schüttelte stumm den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Sie wartete. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, ihn anzubrüllen und ihn in die Arme zu nehmen, verharrte sie reglos gegen die Wand gelehnt und musterte die

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