Drei Minuten mit der Wirklichkeit
diesen Dingen wusste? Hatte sie überhaupt eine Ahnung davon, mit wem sie verheiratet war? Erzählten sich Ehepaare nicht ihre letzten Geheimnisse, oder waren das nur romantische Ideen? Sie würde zunächst ihre Mutter fragen. Vorsichtig, ohne etwas preiszugeben. Unvorstellbar, ihren Vater gleich damit zu konfrontieren. Wie würde er reagieren? Und hatte dieser ganze Ausflug sie ihrer Grundfrage näher gebracht? Wo fügte sich Damián in das Bild? Ihr Vater war in Kuba gewesen. Das letzte Mal 1975. Im Dezember 1975 war er abgehauen. Natürlich hatte er das verschwiegen, genauso wie den Rest seiner traurigen Biografie. Er leugnete alles, was damit zusammenhing. Seine Spanischkenntnisse waren nur ein Beispiel dafür. Er wollte um alles in der Welt verhindern, dass jemand etwas über seine Vergangenheit erfuhr. War das nicht sein gutes Recht? War seine Angst nicht begründet?
Sie drehte die Fensterscheibe ein Stück herunter und ließ kalte Luft über ihr Gesicht streichen.
»Ich fahre zu mir, einverstanden?«, unterbrach Lutz ihre Grübeleien.
»Was? Nein. Ich meine, wie spät ist es?«
»Halb sieben.«
»Hast du keinen Hunger? Komm, ich lade dich ein, ja?«
Die Suche nach einem Parkplatz schwemmte sie in die Neue Schönhauser Straße. Giulietta überließ Lutz die Entscheidung, wo sie essen würden. Der Stil des Restaurants, das er auswählte, war zwar nicht so ganz nach ihrem Geschmack, aber nach den Stunden im Auto und den tristen Eindrücken aus der Provinz Mecklenburg wirkte die unterkühlte Atmosphäre durchaus erlösend.
»Verrückt, das mit meinem Vater, nicht wahr?«, sagte Giulietta, als das Essen gekommen war.
»Hmm. Und warum diese Aktion? Ich meine, warum bist du ausgerechnet heute da hochgefahren?«
»Ich wollte das endlich wissen.«
Lutz rollte eine Stück Lachs auf seine Gabel und schob einen Stängel Dill dazwischen, bevor er beides in den Mund steckte. Er kaute zweimal, schluckte und sagte dann:
»Und warum diese Eile?«
»Es gab einen Auslöser. Aber das ist kompliziert. Tausend Dank jedenfalls, dass du mitgekommen bist.«
»Keine Ursache.« Er wölbte die Lippen, als sei er mit seiner eigenen Antwort unzufrieden, beließ es dann jedoch dabei und wechselte das Thema. »Wie läuft’s an der Oper?«
»Gut. Das Stück ist nicht mein Fall, aber ich komme offenbar gut an.« Sie schilderte die Vorfälle der letzten Wochen.
»Das ist ja unglaublich.« Lutz’ Augen blitzten aufgeregt. »Heert van Driesschen hat sich deinetwegen mit Maggie Cowler angelegt?«
»Kennst du sie?«
»Klar. Sie kommt immer, wenn ein Beckmann-Stück gemacht wird. Ich mag sie, aber sie ist ziemlich pedantisch.«
»Allerdings.«
»Und?«
»Nichts und. Ich soll an Stelle von Marina Francis das Solo tanzen. Sie kommt mit dem Tango nicht klar.«
Lutz legte sein Besteck hin. »Ist das dein Ernst?«
Giulietta spürte zum ersten Mal Stolz in sich aufsteigen. Wo war sie eigentlich mit ihren Gedanken? Vor lauter Kummer war sie drauf und dran, eine großartige Chance zu verspielen. Vor vier Monaten war sie Hospitantin gewesen. Jetzt sollte sie ein Solo tanzen, das auch noch auf ihren Stil zugeschnitten war.
Sie erwähnte den Zwischenfall während der Proben und Marinas Reaktion.
»Marina ist großartig«, sagte Lutz. »Das ist typisch für sie. Mensch, Giulietta, das ist die Chance für dich. Wann ist die Premiere? Das will ich sehen.«
Sie errötete. »Am neunten März. Morgen in einer Woche.«
Er schnalzte mit der Zunge, beugte sich spontan über den Tisch zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Wahnsinn«, sagte er dann. »An deiner Stelle würde ich schweben.«
Sein Enthusiasmus wirkte ansteckend.
»Eben nicht«, sagte sie lachend und prostete ihm zu, »das passt nicht zum Tango.«
Sie ging zur Toilette und lauschte beim Händewaschen dem Meeresrauschen, das aus den Deckenlautsprechern ertönte. Was für ein Tag! Lutz hatte Recht. Es war die Chance ihres Lebens. Plötzlich wollte sie nur noch zurück in die Oper. Auf die Bühne. Das war ihre Welt. Dort lagen jetzt ihre Prioritäten. Alles andere konnte warten. Sie sprang die Stufen hinauf und steuerte auf ihren Tisch zu. Das Wahrzeichen des Restaurants im Hof war nun beleuchtet und durch die Scheiben sichtbar: ein schwarzer Rabe aus Holz, so groß wie ein Auto. Lutz musterte ihn auch gerade, als sie zurückkam.
»Komisches Vieh, nicht wahr?«, sagte er.
»Widerlich. Gehen wir?«
Sie fuhr ihn nach Schöneberg, und es war fast zehn Uhr abends,
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