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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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deutsche Regierung hat diese Diktatur unterstützt?«
    Kannenberg schaute sie mitleidig an. »Frau Battin. Deutschland exportiert vor allem Automobile, Waffen und Kernkraftwerke. Keine Menschenrechte. Um die Beziehungen zur neuen argentinischen Regierung nicht zu stören, hat man damals mehr getan, als nur die Augen zu verschließen. Es hört sich zwar zynisch an, aber was die deutsch-argentinischen Beziehungen während der Militärdiktatur betrifft, so wog damals ein verkauftes Auto mehr als ein Menschenleben.«
    Er räusperte sich, schien kurz zu überlegen, ob er weiterreden sollte.
    »Vor dem Putsch hat es in Buenos Aires ein Treffen zwischen den Botschaftern einiger westlicher Staaten und den Offizieren, die den Staatsstreich vorbereiteten, gegeben. Bei diesem Treffen soll es zu einer Absprache gekommen sein. Die Militärs versprachen, kein Blutbad wie in Chile anzurichten. Dafür wurden großzügige Umschuldungsverhandlungen in Aussicht gestellt. Eine so lautende Pressemeldung wurde zwar dementiert, aber ihr Inhalt bewahrheitete sich alsbald. Die Militärregierung hatte unter anderem die Aufgabe, von ausländischen Kreditgebern diktierte drastische Wirtschaftsmaßnahmen gegen den Widerstand von Gewerkschaften und breiten Teilen der Bevölkerung durchzusetzen. So etwas geht nicht auf verfassungsmäßigem Wege. Es war offenkundig, dass derartige Einschnitte nur unter der Suspendierung demokratischer Rechte und massiver Verletzung von Menschenrechten zu erreichen sein würden. Sprich: rascher, allumfassender Terror. 1982 ist ein Dokument aufgetaucht, aus dem hervorgeht, dass bereits im Jahr 1975 per Abstimmung innerhalb der Streitkräfte das Verschwindenlassen als Haupt-Repressionsmethode beschlossen wurde. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Argentinien intensivierten sich nach dem Putsch enorm. Mit keinem anderen Land der Dritten Welt hat Deutschland in diesem Zeitraum solch glänzende Geschäfte gemacht. Die Deckungsbeschränkung bei Bundesbürgschaften für Ausfuhrgeschäfte nach Argentinien wurde nach dem Putsch sofort aufgehoben.«
    Giulietta hörte zu und begriff immer weniger. »Was heißt das?«, fragte sie matt.
    »Die BRD war der Hauptwaffenlieferant dieser Militärdiktatur. Bei Rüstungsgeschäften geht es um enorme Summen, und daher gibt es hohe finanzielle Risiken. Wechselkursschwankungen, mögliche Zahlungsunfähigkeit des Kunden und so weiter. Damit die deutsche Industrie dieses Risiko nicht allein tragen muss, springt der Staat ein. Mit so genannten Hermes-Bürgschaften, Steuergeldern also.«
    Sie schüttelte stumm den Kopf. Das ging alles über ihren Verstand. Sie hatte den Eindruck, als sei ihr Leben mit einer riesigen, anonymen Maschine in Berührung gekommen, deren Ausmaße sie überhaupt nicht überschauen konnte. Sie konnte damit nicht umgehen. Sie war Ballett-Tänzerin. Was hatte sie mit Waffengeschäften zu tun? Und dennoch. Sie wollte über diese Dinge Bescheid wissen. Und Kannenberg schien vorübergehend vergessen zu haben, warum sie überhaupt vor ihm saß. Er redete und redete.
    »In Buenos Aires wurden unter anderem auch deutsche Staatsbürger auf offener Straße entführt, monatelang ohne jeglichen Haftbefehl gefangen gehalten und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet. Das Auswärtige Amt reagierte mit freundlichen Anfragen, die von argentinischer Seite stets gleich beantwortet wurden: der Bürger oder die Bürgerin XY sei in Argentinien nicht bekannt. In einem Fall hat eine französische Gefangene, die durch das rasche und bestimmte Handeln der französischen Regierung freikam, ausgesagt, sie habe mehrere der vermissten Deutschen in einem der Gefängnisse gesehen. Nur durch großen Druck war Bonn dazu zu bewegen, diese Person überhaupt anzuhören. Danach geschah nichts. Für das Auswärtige Amt war in Argentinien durch den Putsch eine kommunistische Revolution verhindert worden. Die gegenwärtigen Opfer mussten daher notwendigerweise linke Terroristen sein. Entsprechend reagierte der Staat. Mit stillschweigendem Einverständnis und Verharmlosung. Die Asylquote für Argentinien wurde entsprechend klein gehalten, aber selbst das war nur symbolisch, denn wer erst einmal in einem der Gefängnisse verschwunden war, konnte ohnehin keinen Asylantrag mehr stellen. Die Leute wurden willkürlich verhaftet, systematisch gefoltert und fast immer ermordet. Zum Vergleich: für Vietnamflüchtlinge wurden im selben Zeitraum zehntausend Asylplätze bereitgestellt.

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