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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Milonga.
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    »Ah.«
    Sie drehte sich lachend zu ihren Kolleginnen um und rief ihnen etwas auf Spanisch zu. Die beiden schauten Giulietta neugierig an und gaben unverständliche Kommentare ab. Sie kam sich vor, als habe sie nach etwas Unanständigem gefragt.
    Dann wandte sich das Mädchen ihr wieder zu und erklärte ihr, dass sie nicht wisse, wo es heute eine Milonga gäbe. Aber sie kenne da ein Café in der Innenstadt. Soviel sie gehört habe, würde dort sonntagnachmittags Tango getanzt. Giulietta erhielt einen zweiten Zettel und beeilte sich, aus dem Büro hinauszukommen.
    Die Taxifahrt dauerte nur wenige Minuten. Die Stadt war wie ausgestorben. Das Taxi kreuzte den Boulevard mit dem Obelisken, welchen sie schon von der Autobahnrampe aus gesehen hatte, und hielt nach kurzer Zeit vor einem unscheinbaren Haus in einer Straße namens Bartolomé Mitre. Der Taxifahrer ließ es sich nicht nehmen, ihr Gepäck in die Eingangshalle des Hauses hineinzutragen, und wartete sogar, bis der Fahrstuhl heruntergekommen war.
    Das Hotel befand sich in der vierten Etage eines Mietshauses, welches, dem Fahrstuhl nach zu schließen, aus der Jahrhundertwende stammen musste. Der üppig mit Holz, Marmor, Spiegeln und Schmiedearbeiten verzierte Fahrkorb setzte sich quietschend himmelwärts in Gang und erreichte zwar langsam, aber ohne Anzeichen einer akuten Absturzgefahr sein Ziel im vierten Stock. Ein dicklicher älterer Herr mit Atembeschwerden und stark behaarten Ohrmuscheln öffnete und führte sie durch einen langen, dämmerigen Flur an ein Tischchen. Dort trug er umständlich die Informationen aus ihrem Reisepass in ein kompliziert erscheinendes Formular und zeigte ihr dann die Bad- und Toilettenräume, die man über den Flur im hinteren Teil der verzweigten Wohnung erreichen konnte. Danach öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer. Er ließ den Schlüssel stecken, murmelte etwas Unverständliches und trottete von dannen. Sie schob ihr Gepäck in den kleinen Raum, schloss die Tür und ließ sich aufs Bett fallen.
    Sie verharrte einige Minuten ausgestreckt und versuchte, die Eindrücke aufzunehmen, die auf sie einströmten: die stuckverzierte Zimmerdecke gut und gern fünf Meter über ihrem Kopf, den Kleiderschrank aus weiß gestrichenen Pressspanplatten, das Fischgrätmuster des gewachsten Parketts. Sie lief ans Fenster, öffnete die beiden Türen und trat auf den winzigen Balkon hinaus. Warme Luft umspielte ihr Gesicht und strich über ihre Hände auf der schmiedeeisernen Brüstung. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über dem Meer aus Häusern, Dächern und Höfen.
    Irgendwo dort draußen war Damián und wusste nichts von ihr, lief vielleicht keine fünfhundert Meter von ihr entfernt die Straße entlang oder stand ebenfalls am Fenster, schaute in den gleichen Himmel hinauf, roch die gleiche warme Luft. Doch wie sollte sie ihn bloß finden? Was sollte sie überhaupt hier tun?
    Und dann war er plötzlich wieder da, völlig ohne Vorwarnung, dieser Schmerz, der ihr die Brust von innen zusammenzog. Sie wankte ins Zimmer zurück, ließ sich auf das Bett sinken und hoffte, dass die Verkrampfung sich lösen würde. Doch stattdessen wurde sie stärker, schnürte ihr die Luft ab, würgte sie, bis ihr ganzer Oberkörper so höllisch zu schmerzen begann, dass sie sich vorbeugen musste. Sie sah ihr Gesicht im Spiegel des Kleiderschranks, ein blasses, verzerrtes, von Tränen überströmtes Gesicht mit zitternden Lippen, die sie vergeblich zusammenzupressen suchte, um das Schluchzen zu unterdrücken. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und versuchte, an etwas anderes zu denken. Warum brach das jetzt aus ihr hervor? Weil sie sich nicht mehr bewegte? Weil sie angekommen war und nicht mehr weiter wusste? Sie kramte den Zettel heraus, den das Mädchen an der Busstation ihr gegeben hatte, und starrte auf die Schriftzeichen.
Confitería Ideal. Suipacha 384. 16:00.
    Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Sie würde duschen und eine Stunde schlafen. Vielleicht würde er dort sein? Bestimmt würde er dort sein. Sie packte ihren Koffer aus, nahm dann eins der beiden Handtücher vom Bett und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Die Einrichtung erinnerte sie an Bäder, die sie in England gesehen hatte. Der Duschkopf war so groß wie ein Topfdeckel. Das heiße Wasser tat ihr gut. Doch kaum hatte sie die Dusche verlassen, spürte sie eine lähmende Müdigkeit in sich aufsteigen. Sie kehrte in ihr Zimmer zurück und ließ sich aufs Bett fallen. Sie schaffte

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