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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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einzutauchen. Doch als die Fahrtstrecke den ersten flüchtigen Blick auf das Zentrum der Stadt erlaubte, die Avenida 9. de Julio und den berühmten Obelisken, hatte Giulietta einen Moment lang geglaubt, noch schlafend und träumend in ihrem Flugzeug zu sitzen. Wie konnte eine so riesige Stadt so leer sein?
    Sie war gegen elf Uhr gelandet. Zwanzig Minuten später hatte sie ihren gelben Schalenkoffer auf dem Fließband gefunden, war dann durch die gläserne Schiebetür gegangen und hatte beim Hinausgehen der absurden Versuchung nicht widerstehen können, die Gesichter der dort Wartenden eindringlich zu mustern. Aber das eine Gesicht, das sie suchte, war natürlich nicht darunter. Stattdessen kamen Männer in weißen Hemden und schwarzen Hosen herbeigelaufen, sprachen schnell auf sie ein, griffen nach ihrem Gepäck und warfen ihr vielsprachige Wortstummel entgegen, um ihre Taxi- oder Hoteldienste anzubieten. Sie lehnte mit Bestimmtheit ab, floh aus diesem Bereich, wo Neuankömmlinge und Taxifahrer zusammenprallten, und durchspähte die Ankunftshalle nach einem Geldautomaten. Als sie einen gefunden hatte, betrachtete sie die Wechselkurstabelle und stellte beruhigt fest, dass diese Währung einfach zu berechnen war. Ein Peso entsprach einem US -Dollar. Ihr war unbehaglich zu Mute, als sie die Kreditkarte in den Automaten schob und den Geheimcode eingab. Wenn das jetzt nicht funktionierte, wäre sie aufgeschmissen. Aber ihre Sorge war unbegründet. Der Apparat spuckte anstandslos 200 Pesos aus.
    Der Bus, der sie in die Innenstadt bringen sollte, war spärlich besetzt. Auf dem vorderen Sitz gleich hinter dem Fahrer hatte sich ein asiatisch aussehendes Mädchen niedergelassen. Einige Reihen hinter ihr saß ein Mann von unbestimmbarem Alter mit kurzgeschorenem Haar. Er musterte Giulietta kurz. Seine Augen schienen gereizt zu sein. Jedenfalls blinzelte er und schaute dann aus dem Fenster. Zwei Reihen hinter dem Mann nahm soeben eine ältere Frau mit einem kleinen Kind Platz, und auf gleicher Höhe gegenüber hatte sich ein älteres Touristenpärchen niedergelassen, das sich recht laut auf Englisch unterhielt und dessen Herkunft zweifelsfrei als amerikanisch zu bestimmen war. Der Mann trug Jeans und ein beigefarbenes Hemd, das nur aus Taschen zu bestehen schien, seine mollige Begleiterin steckte ebenfalls in Jeans und in einem T-Shirt, das stolz belegte, dass sie vor vier Jahren ein Bruce-Springsteen-Konzert besucht haben musste. Giulietta setzte sich zwei Sitzreihen hinter sie.
    Sie bedauerte jetzt, den Landeanflug verschlafen und überhaupt keinen Blick aus der Vogelperspektive auf ihre neue Umgebung geworfen zu haben. Hier unten wirkte das Land flach und unspektakulär. Die Fahrt ging über eine Landstraße, an Feldern, Wiesen und Bäumen entlang. Irgendwann war eine Autobahn daraus geworden, und wenig später hatten zehn- bis zwölfstöckige Wohnsilobauten die Landschaft überwuchert. Antennenmeere wuchsen aus Flachdächern. Auf nicht wenigen Balkonen gähnten Satellitenschüsseln.
    Der Bus rumpelte eine Rampe hinab. Ein unfertiges Autobahnstück mit heraushängenden rostigen Trägerverstrebungen schwebte vor Giuliettas Fenster vorüber. Der Fahrer bog scharf nach rechts, dann nach links. Es ging einige Zeit abwärts. Als sie den Straßenstummel wieder sah, lag er gut und gern zwanzig Meter über ihrem Kopf. Sie schloss die Augen und hoffte, dass die Rampe, auf der sie entlangfuhr, nicht gleichfalls auf einem ins Nichts hinausragenden Straßenstumpf enden möge. Doch kurz darauf tauchte der Bus in die Straßenschluchten der Innenstadt ein, fuhr an geparkten Autos und geschlossenen Geschäften vorbei, manövrierte weit ausholend um mehrere enge Ecken herum und kam schließlich auf einem von riesigen Bäumen gesäumten Platz zum Stehen.
    Sie nahm ihr Gepäck entgegen und betrat das Büro des Busunternehmens. Das Mädchen am Empfang sprach sehr gut Französisch, eine Sprache, in der sich Giulietta auch wohler fühlte als im Englischen. Sie fragte, ob man ihr ein erschwingliches Hotelzimmer in der Nähe empfehlen könnte. Zwei Telefonate später war das erledigt, und sie erhielt einen Zettel mit der Adresse, den sie einfach dem Taxifahrer geben sollte. Das Mädchen schaute sie erwartungsvoll an.
    »Encore quelque chose?«
    »Oui, bon … je cherche un endroit où les gens dansent le tango«, sagte Giulietta.
    Das Mädchen schaute sie etwas verunsichert an.
    »Des shows?«
    »Non, pas ça. Une
Milonga
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