Drei Minuten mit der Wirklichkeit
So einfach ist das.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Das macht nichts. Die Erklärung ist zu kompliziert.«
»Aber irgendwann haben sie es doch erfahren?«
»Ja.«
»Und dann?«
Er hatte nur mit den Schultern gezuckt, und sie hatte das Gefühl gehabt, die Frage sei ihm unangenehm. Deshalb hatte sie davon abgelassen und über sich gesprochen.
»Ohne meinen Vater wäre ich sicherlich niemals Tänzerin geworden«, sagte sie.
»Das glaube ich nicht.«
»Doch. Meine Mutter hätte es mir verboten.«
»Und? Hättest du gehorcht?«
»Nein. Aber ich hätte wahrscheinlich viel zu spät angefangen.«
»So wie ich.«
»Du? Wieso?«
»Ich werde niemals richtig gut sein. Ich habe zu spät angefangen. Wie du gesagt hast.«
»Unsinn, ich meine … Ballett ist doch nicht Tango.«
»Ach ja?«
»Nein, ich meine … man kann das doch nicht vergleichen.«
Er warf ihr einen kühlen Blick zu. Dann hatte er gelächelt und den Kopf geschüttelt. »Mein Engel, auch die Teufelchen formt man am besten warm.«
Sie hatte ihn nicht verletzen wollen, aber das Gespräch hatte ihn verstimmt zurückgelassen, auch wenn er das zu überspielen suchte. Sie hatte das Thema nicht wieder angeschnitten. Es gab Dinge, über die man mit ihm einfach nicht reden konnte. Oder nur auf seine Weise. Was wusste sie eigentlich über diesen rätselhaften Menschen?
Nichts.
3
D as Taxi hielt in einer dunklen, schmalen Straße. Die rote Digitalanzeige neben dem Rückspiegel zeigte 3.85 an, und Giulietta gab dem Fahrer vier Pesos. Er bedankte sich, stieg sogar aus und öffnete ihr die Tür. Dann wies er auf einen erleuchteten Eingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite und verabschiedete sich mit einem unverständlichen Wortschwall, worin sie als einziges das Wörtchen
Ideal
ausmachen konnte.
Sie überquerte die Straße und ging auf den Eingang des Lokals zu. Was immer es war, ein Kaffeehaus, eine Konditorei oder eine Mischung aus beidem, die kümmerliche Beleuchtung verhieß nichts Gutes. Die hohen, schmiedeeisernen Eingangstüren waren weit geöffnet. Giulietta setzte ihren Fuß auf eine ausgetretene Marmorschwelle und betrat einen Vorraum, der wohl als Windfang diente. Links führte eine geschwungene Marmortreppe in das nächste Stockwerk, doch der Zugang war durch eine dunkelrote Samtkordel versperrt. Vor ihr erstreckte sich ein ballsaalgroßes Kaffeehaus, das direkt aus einem Wiener Bezirk zu stammen schien. Gerade einmal drei Tische waren besetzt. An der Theke lehnten vier Kellner in weißem Hemd, schwarzer Weste und Fliege und blickten teilnahmslos um sich. Dem Ganzen haftete etwas Stehengebliebenes an.
Und dann sah sie das Foto. Das Bild hing in Kopfhöhe an einer Pinnwand neben der Treppe, die in den oberen Stock führte. Es war nur eine billige Fotokopie eines Fotos, aber sie erkannte ihn sofort. Das Plakat hing zwischen anderen Werbezetteln der gleichen Machart, die entweder ein Tanzpaar in einer mehr oder weniger aufregenden Pose oder nur die Zeichnung eines Bandoneons zeigten. Darunter waren die Namen der Lehrer mit ihrer Telefonnummer vermerkt.
Damián y Nieves
stand unter dem Foto, das die beiden in einer Drehung zeigte.
Miércoles 17:30-19:00
. Ein dicker Balken war über das Ganze gelegt, worauf zu lesen stand:
En gira en Europa hasta dec 1999.
Keine Telefonnummer.
Giuliettas Blick eilte über die ganze Pinnwand. Ein gutes Dutzend Tanzpaare boten dort ihre Dienste an. Sie hießen Sergio y Silvia oder Juan y Susana. Manche hatten lediglich mit Hilfe eines Reißnagels ihre Visitenkarte hinterlassen. Sie versprachen zum Teil gar nichts, zum Teil, wie Giulietta sich zusammenreimte, spezifische Kenntnisse oder Techniken.
Aprenda estilo milonguero. Curso especial mujeres. Ochos y giros.
Jemand bot maßgeschneiderte Tangoschuhe an. Eine
Tanguera Japonesa
suchte einen Tanzlehrer im Tausch gegen Englischunterricht.
Especial
, dachte sie. Damiáns Stimme ihrer ersten Begegnung klang in ihr nach. »
Espezialist
für Einmaligkeiten. Giulietta Battin. Gibt es nur einmal in Berlin.«
Damián y Nieves. Auf Tournee in Europa.
Keine Telefonnummer.
Sie schrieb sich die Telefonnummern der anderen Tanzpaare auf. Dann entdeckte sie ein separates Blatt, auf dem sämtliche Kurs- und Tanztermine dieses Lokals verzeichnet waren. Sie hatte Glück im Unglück gehabt. Den heutigen Termin hatte sie verschlafen.
Domingos, de 15 a 21 hs, Tango y otros Ritmos
, stand dort. Aber am Dienstag gab es bereits wieder einen Kurs. Sie schrieb sich die Zeiten
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