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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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es gerade noch, den roten Zeiger ihres Reiseweckers auf drei Uhr zu stellen. Dann schlief sie auf der Stelle ein.

2
    A ls sie wieder zu sich kam, war tiefe Nacht. Das Erste, was sie spürte, war eine furchtbare Trockenheit im Hals. Sie fuhr hoch. Der Wecker stand auf viertel vor drei. Wie war das möglich? Wieso war es dunkel? Sie griff nach ihrer Armbanduhr, deren Zeiger auf viertel vor elf standen. Was war das für ein Lärm? Warum war sie nicht zu Hause? Erst allmählich wurde ihr klar, wo sie sich befand. Ihr Blick irrte durch das kleine Hotelzimmer, das jetzt im hereinfallenden Mondlicht unheimlich wirkte. Sie hatte den verfluchten Wecker nicht auf die örtliche Zeit umgestellt. Viertel vor elf und Dunkelheit. Sie hatte neun Stunden geschlafen. Sie glitt aus dem Bett, stürzte zum Waschbecken in der Ecke und trank direkt aus dem Hahn. Was für eine stickige Hitze! Sie ging zum Fenster und öffnete die beiden Flügel. Warme Luft schlug ihr entgegen und zugleich Straßenlärm. Was sie für Mondlicht gehalten hatte, war eine Neonlaterne, die aus unerfindlichen Gründen einen Teil des schachtartigen Hinterhofes beleuchtete. Verkehrslärm quoll zu ihr herauf. Dieses Hupen und Quietschen musste sie geweckt haben. Und dann, wie ein Stromstoß, die Erkenntnis, etwas ungeheuer Wichtiges verschlafen zu haben. Das Tangolokal! Sie hatte diesen Termin verpasst! Sie ging verstört einige Schritte auf und ab, bevor sie wieder auf den kleinen Balkon hinaustrat. Diese Stadt war verhext. Heute Mittag war hier alles öde und leer gewesen. Jetzt war bald Mitternacht, und dort unten wälzte sich eine endlose Autolawine durch die Straße. In kurzen Abständen durchschnitten gellende Hupgeräusche das Konzert aus aufheulenden Motoren. Die Umrisse der umliegenden Gebäude zeichneten sich schwarz gegen den Nachthimmel ab. Ein kleiner, dunkler Schatten flog dicht an Giuliettas Gesicht vorbei. Sie zuckte zusammen. Ein Vogel, dachte sie, doch plötzlich war da ein zweiter, dann ein dritter Schatten. Sie huschten völlig lautlos an ihr vorüber, schienen jedoch jedes Mal näher zu kommen. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es Fledermäuse sein mussten. Entsetzt und angeekelt wich sie zurück und schloss das Fenster.
    Sie war jetzt hellwach. Den einzigen Anhaltspunkt, Kontakt zu diesen Tangoleuten zu bekommen, hatte sie verschlafen. Wie sollte sie Damián bloß finden? Warum hatte sie keine Adresse von ihm? Warum hatte sie ihn bloß nie nach seiner Adresse gefragt? Sie knipste das Licht an, ging zum Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Sollte sie wirklich dort hinausgehen? Mitten in der Nacht, ganz allein? Vielleicht wären ja noch ein paar Leute in dem Lokal. Dauerten Milongas nicht die ganze Nacht? Aber sie spürte, dass sie Angst hatte. Diese riesige Stadt. Wie waren die Menschen hier? Konnte eine Frau hier nachts allein durch die Straßen gehen? Vorsichtshalber zog sie ein weites Sweatshirt an und steckte sich das Haar zu einem Dutt zurecht. Die Bewegung ließ sie innehalten. Was tat sie bloß hier? Sie sollte in der Staatsoper in der Umkleide sein, ihr Haar hochstecken und in den Trainingssaal an die Stange gehen. Was um alles in der Welt hatte sie in dieser fremden Stadt verloren?
    Sie versuchte, sich die Strecke einzuprägen, die das Taxi zurücklegte, doch schon nach wenigen Minuten hatte sie jegliche Orientierung verloren. Plötzlich war da wieder jener riesige Obelisk, den sie heute Morgen schon gesehen hatte. Der gigantische Boulevard, in dessen Mitte er thronte, war nun hinter einer endlosen Autolawine verschwunden. Das Taxi musste zweimal an einer roten Ampel warten, bis der Boulevard überquert war. Giulietta zählte sechzehn Spuren.
    Das war also seine Stadt. Hier war er aufgewachsen, zur Schule gegangen, war an der Hand seiner Mutter durch die Straßen gelaufen, hatte sein erstes Mädchen geküsst. Irgendwo musste seine Schule sein, sein Lieblingscafé. Und in einer dieser Straßen hier im Zentrum hatte er seinen ersten Tangounterricht genommen. Er hatte angedeutet, dass dies alles heimlich hatte geschehen müssen. Der Grund dafür hatte sie interessiert. Aber er hatte vom Thema abgelenkt, nicht weiter darüber sprechen wollen.
    »Warum waren deine Eltern denn dagegen, dass du Tango tanzt?«
    »Sie wussten es gar nicht.«
    »Aber warum hast du es ihnen verheimlicht?«
    »Weil sie dagegen waren.«
    »Woher willst du das wissen, wenn sie es gar nicht wussten?«
    »Der Sohn von Fernando Alsina tanzt nicht Tango.

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