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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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auf und schaute dann wieder auf das Bild, das ihre Aufmerksamkeit zuerst gefangen hatte. Es musste vor einigen Jahren aufgenommen worden sein. Damián sah schmal und blass aus. Sein Haar war länger. Er wirkte melancholisch und unreif. Seine Bewegung sah männlich aus, der Körper indessen jungenhaft, was eine seltsame Diskrepanz ergab. Nieves hatte sich dagegen nicht sehr verändert. Das gleiche schöne Gesicht, die gleichen wohlgeformten Schultern. Mehr war hier nicht von ihr zu sehen. Damián musste schon damals etwas Besonderes gehabt haben, dass sie sich für einen offensichtlich so viel jüngeren Tanzpartner entschieden hatte. Er hatte sie systematisch erobert, sich ein halbes Jahr lang vorbereitet. Das war ein Wesenszug an ihm, den sie mochte. Blinde Begeisterung gepaart mit Methode. Und war ihm, als es um sie selbst ging, die Methode nicht gleichgültig gewesen? Hatte er auch nur einen einzigen Tag verstreichen lassen? Ihr Herz krampfte sich zusammen, und sie verdrängte den Gedanken. Den Termin hatte sie verpasst, sie konnte hier nichts mehr tun. Sie warf einen Blick in das fast völlig leere Lokal. Trotz aller Wiener Caféhaus-Pracht war der Anblick deprimierend. Sie war hungrig, aber in dieser gespenstischen Atmosphäre wollte sie sich nicht niederlassen. Sie drehte sich um und stieß fast mit einem alten Mann zusammen, der soeben das Wort an sie richtete.
    »Te gusta el tango?«, fragte er und ließ noch zwei weitere Sätze folgen, die sie genauso wenig verstand.
    »… I’m sorry … no Spanish …«, erwiderte sie verunsichert.
    Aber der alte Mann ließ sich nicht beirren. Er zeigte auf die unterschiedlichen Anzeigen an der Pinnwand und gab zu jeder davon einen gestisch unterstrichenen Kommentar ab. Woher er so plötzlich gekommen war, war Giulietta ein Rätsel, bis sie einen Stuhl in einer unbeleuchteten Nische des Windfangs entdeckte, wo er wohl gesessen und sie beobachtet haben musste. Er war kein alter Mann, sondern ein alter Herr. Er trug einen einfachen Anzug, ein weißes Hemd und trotz der Hitze eine Krawatte. Sein Gesicht strahlte Wärme aus, was Giulietta so gut tat, dass sie stehen blieb und ihm zuhörte, obwohl sie kein Wort von seinen weitschweifigen Erklärungen verstand. Sie ließ zu, dass er sie sanft an der Hand nahm, erneut vor die Pinnwand führte und ihr alles erklärte, was dort zu lesen stand. Als er allmählich begriff, dass sie wirklich kein einziges Wort verstand, ging er dazu über, sich vor allem mimisch über die unterschiedlichen Lehrer auszulassen. Seine Augen wurden groß vor Bewunderung oder gerannen zu schmalen Schlitzen der Geringschätzung. Einmal fuhr er sich mit der Hand durch seine wenigen Haarsträhnen, die im Zwielicht silbrig glänzten, und schüttelte dann den Kopf, um sie vor einem besonders unfähigen Lehrer zu warnen.
    »Vos, de donde sos?«, fragte er dann.
    »Sorry?«, antwortete Giulietta bekümmert.
    »Vos, de donde … Americana?«
    »Ah, no, Germany, Berlin.«
    »Ah, alemana. Mateus.«
    »What?«
    »Lotario Mateus.«
    »… Äh, ja, yes, Beckenbauer«, erwiderte sie hilflos.
    »Sí. Sí. Bayan Munitsch.«
    Sie hätte den Alten am liebsten umarmt. Er reichte ihr gerade bis zu den Schultern und strahlte sie mit seinen braunen Augen an. Er duftete nach Rasierwasser, hatte gepflegte Hände und die Gesichtszüge eines alten Menschen, der den Verlust der Jahre gegen die Gewissheit seiner Würde eingetauscht hat. Es war eines jener Gesichter, in denen sich trotz des Alters etwas von der Neugier eines Kindes erhalten hatte.
    »Sorry«, unterbrach sie den Redeschwall des Mannes, »no speak Spanish. Non capisco niente.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. Er legte den Kopf schief, strahlte sie an, hob die Schultern und sagte nur: »Martes vienes a bailar Tango, no?«
    Sie schüttelte den Kopf. Was meinte der Mann nur?
    »Tusday … dance … Tango«, brachte er dann hervor.
    »Sí«, antwortete sie, »I’ll come.« Und dann fügte sie hinzu, indem sie auf sich deutete: »Giulietta.«
    »Ah. Que lindo. Yo soy Alfredo. Pregunta por Alfredo. Asi no pagas entrada.«
    Sein Daumen und Zeigefinger mimten das universelle Zeichen für Geld, gefolgt von einigen weiteren Gesten, denen sie entnahm, dass sie durch seine Bekanntschaft keinen Eintritt würde bezahlen müssen.
    Sie nickte und sagte: »Yes. Alfredo. Gracias.«
    Dann wandte sie sich der Pinnwand zu, legte den Finger auf Damiáns Foto und sagte: »Tu connais Damián?«
    Er breitete die Arme aus und blickte

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