Drei Minuten mit der Wirklichkeit
zum Himmel, gerade so als habe sie ihn gefragt, ob er wisse, dass die Erde rund sei.
»Nieves y el loco. Claro. Pero no están. Están en Europa.«
Er deutete auf den Balken über dem Foto. »Europa«, bekräftigte er dann noch einmal.
»Sí«, erwiderte Giulietta. »I know.« Wie konnte sie ihm nur klar machen, was sie wollte? Sie deutete hintereinander auf die Telefonnummern der anderen Tanzlehrer und dann auf Damiáns und Nieves’ kleines Plakat, wo keine Nummer angegeben war. Der alte Mann begriff sofort, zuckte jedoch ratlos mit den Schultern.
»No sé«, sagte er mit allen Anzeichen von Bedauern, »no conozco su número. Pero martes, preguntas por el loco, ya alguién lo sabrá.«
Sie versuchte krampfhaft, einen Sinn aus diesen Worten herauszulesen. Offenbar kannte er Damiáns Telefonnummer nicht. So weit konnte sie ihm folgen. Und
martes
hieß wahrscheinlich Dienstag. Aber der Rest?
Preguntas por elloco
?
»Martes …?«, wiederholte sie unsicher. »Damián … martes?«
»Sí, sí. Martes. El Loco.«
Giulietta schüttelte den Kopf. »El loco no, no«, sagte sie. »Damián!«
Er lachte.
»Sí. Sí. Damián. El Loco.«
El loco, wiederholte sie leise, ratlos, was das wohl bedeuten sollte. Aber gut, sie würde am Dienstag hierher kommen und herausfinden, ob nicht jemand seine Adresse oder Telefonnummer kannte. Dienstag. Zwei ganze lange Tage entfernt.
Sie bedankte sich bei Alfredo. Er wollte sie noch überreden, etwas mit ihm zu trinken, aber sie lehnte dankend ab. Er akzeptierte sofort, wofür sie ihn wieder hätte umarmen mögen. Aber das besorgte er schon selber, küsste sie auf die linke und die rechte Wange und wünschte ihr eine gute Nacht.
»Buenas noches, mi amor, que te vaya bien.«
»Gracias. Buenas noches.«
4
S ie schwebte buchstäblich auf die Straße hinaus und schlenderte die Calle Suipacha hinauf. Die Begegnung hatte ihre Beklemmung gemildert. Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr ganz so niedergeschlagen, und fast wäre sie zurückgegangen, um doch ein Glas mit diesem Alfredo zu trinken. Doch plötzlich stand sie auf einem belebten Boulevard, und ihr Blick fiel auf einen hell erleuchteten Telefonladen. Die Versuchung war zu groß. Sie überquerte den Boulevard. Avenida Corrientes, las sie auf einem Schild. Sie lief einige Meter gegen den Verkehrsfluss und betrat den Laden. In einer Ecke lagen Telefonbücher, und einige Augenblicke später flog ihr Blick über endlose Spalten, die alle auf den gleichen Namen lauteten: Alsina. Sieben Seiten lang. Damián Alsinas gab es nicht weniger als vierzehn. Dann fast noch einmal so viele D. Alsinas. Wie hieß sein Vater noch? Fernando. Aber da war es nicht viel anders. Achtmal Fernando Alsina. Dreiundzwanzigmal F. Und wie sollte sie in einer ihr völlig unbekannten Sprache telefonieren? Plötzlich war ihr Finger beim Buchstaben O und blieb bei einem Namen hängen, den es tatsächlich nur einmal gab: Ortmann, K. Sie notierte die Nummer. Konnte sie es wagen, seinen ehemaligen Deutschlehrer anzurufen? Sie legte das Telefonbuch zurück und schaute auf die Uhren über der Theke neben dem Eingang, wo die Uhrzeiten der wichtigsten Zeitzonen angezeigt waren. Frankfurt war auch darunter. Sechs Uhr morgens. In Deutschland begann der Montag. Ihr Vater wäre schon wach, duschte wohl gerade, während ihre Mutter sich noch einmal umgedreht haben würde. Sollte sie anrufen? Ihnen wenigstens ein kurzes Zeichen geben, dass es ihr gut ging? War es fair, sie völlig ohne Nachricht zu lassen?
Kurz entschlossen ging sie zur Theke und meldete ein Gespräch an. Sie erhielt ein Stück Holz mit einer Nummer darauf und begab sich in die entsprechende Kabine. Nach dem zweiten Klingeln hörte sie die Stimme ihres Vaters:
»Giulietta?«
»Ja.«
»Endlich. Liebes. Wo bist du?«
»Es geht mir gut, Papa. Macht euch keine …«
»Giulietta?«
Die Stimme ihrer Mutter. Der zweite Apparat im Schlafzimmer.
»Guten Morgen, Mama.«
»Wo bist du? Ist alles in Ordnung?« Anita klang hellwach.
»In Buenos Aires. Mama, Papa, es ist alles in Ordnung. Es tut mir Leid, dass ich euch das angetan habe, aber ich konnte nicht anders. Es geht mir gut. Macht euch keine Sorgen. Ich …«
»Giulietta, hör mir zu …«
Es war die Stimme ihres Vaters.
»Markus, lass sie doch erst einmal ausreden.«
»Giulietta, meide Damián, er ist verrückt und völlig unberechenbar …«
»Markus, du sollst …«
»Halt den Mund, Anita, verdammt noch mal. Giulietta, hörst du
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