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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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kann?«
    Sie hatte sich die Sätze hundertmal durch den Kopf gehen lassen, und dennoch klangen sie jetzt falsch, verdächtig.
    Pause.
    »Woher haben Sie meine Nummer?«
    »Aus dem Telefonbuch. Ich bin für ein paar Tage in Buenos Aires, beruflich. Ich hatte bis vor ein paar Jahren eine Brieffreundschaft mit Damián, aber der Kontakt ist eingeschlafen. Seine letzte Adresse und Telefonnummer sind nicht mehr aktuell, und Sie sind der einzige Anhaltspunkt, an den ich mich noch erinnere. Er erwähnte bisweilen seinen Deutschlehrer, Herrn Ortmann, und so habe ich einfach im Telefonbuch nachgeschaut. Sie kennen doch Damián? … Damián Alsina?«
    Pause.
    Sie hörte, dass eine Hand über die Sprechmuschel am anderen Ende der Leitung gelegt wurde. Wie aus endlos weiter Ferne drangen erstickte Laute durch die Leitung, schnell gesprochene spanische Gesprächsfetzen. Im Hintergrund war eine weitere Stimme zu hören. Eine weibliche Stimme. Dann vernahm sie ein Klicken in der Leitung, und die Stimme des Mannes kehrte zurück.
    »Wie war Ihr Name?«
    »Battin. Giulietta Battin.«
    »Und Sie rufen aus Buenos Aires an?«
    »Ja. Aus meinem Hotel.«
    Eine zweite Person lauschte dort am Telefon. Giulietta konnte ihren Atem hören.
    »Entschuldigen Sie«, fuhr sie fort, »ich weiß, dass es etwas ungehörig ist, Sie einfach so anzurufen, ich dachte nur, Sie wissen vielleicht, wo ich ihn erreichen könnte. Es tut mir Leid. Ich bin nur für ein paar Tage hier und dachte, er würde sich vielleicht freuen, mich zu treffen. Aber es ist nicht so wichtig. Verzeihen Sie die Störung.«
    »Nein, nein. Warten Sie. Wie heißt Ihr Hotel?«
    Sie nannte ihm den Namen.
    »Welche Nummer?«
    »Meinen Sie die Hausnummer?«
    »Nein. Ihre Telefonnummer.«
    Sie las die Telefonnummer des Hotels von der Visitenkarte ab.
    »Kann ich Sie gleich zurückrufen?«
    Giulietta bejahte und legte auf. Sie atmete tief durch und stellte das Telefon auf den Nachttisch zurück.
    Sie war seit sechs Uhr wach, hatte wie gelähmt im Bett gelegen, zur Decke gestarrt und überlegt, was sie heute bloß tun sollte. Vor ihrem Fenster lag eine riesige Stadt, die sie erkunden konnte, aber würde sie das Damián näher bringen? Sie musste doch etwas unternehmen können, um seine Adresse ausfindig zu machen. Morgen gab es diese Tanzveranstaltung, wo sie vielleicht jemanden treffen würde, der ihn kannte. Aber sollte sie heute den ganzen Tag untätig verstreichen lassen? Sie war aufgestanden, hatte das Bett von der Wand gerückt und einige Dehn- und Streckübungen gemacht. Sie spürte die drei Tage Trainingspause sofort, und ein Anflug von Panik durchfuhr sie. Was tat sie nur hier? Eine Woche lang nicht zu tanzen, war schon schlimm genug, doch nicht zu trainieren, war eine kleine Katastrophe.
    Sie hielt sich an der Bettkante fest, ging ins
demi-plié
, hielt den freien Arm in der zweiten Position und drehte den Kopf seitwärts. Der Platz war gerade ausreichend, und wenige Minuten später war sie bereits bei den ersten
battements tendus
. Dies war immer ihre Zuflucht gewesen. In der Regelmäßigkeit dieser Übungen war das Chaos der Welt um sie herum restlos gebannt. Bei jeder Bewegung spürte sie den Widerstand ihrer Muskeln, die Trägheit ihres Bewegungsapparates, der wie schon ungezählte Male zuvor nur allmählich dem Druck ihres Willens nachgab. Sie war süchtig nach diesem Erlebnis. Es machte sie euphorisch, diese Grenze zu überwinden. Sie trainierte wie in Trance, und wenn sie aus dieser Betäubung herauskam, verfügte sie über einen anderen Körper und eine zuversichtlichere Stimmung. Andernfalls hätte sie niemals den Mut aufgebracht, diese Telefonnummer zu wählen.
    Jetzt saß sie neben dem Apparat und biss sich nervös auf die Lippen. Das Gespräch war mehr als seltsam verlaufen. Sie hatte gelogen. Aber was hätte sie denn schon als Erklärung vorbringen sollen? Die ganze Geschichte zu erzählen, war ausgeschlossen. Es war ohnehin unwahrscheinlich, dass ein ehemaliger Lehrer noch etwas über den Verbleib eines seiner vielen Schüler wusste. Was erhoffte sie sich überhaupt von diesem Anruf? Jemanden in dieser Stadt zu sprechen, der ihre Sprache verstand? Das war schon etwas. Überhaupt mit jemandem zu sprechen. Die Situation wuchs ihr über den Kopf. Sie war noch nie so einsam gewesen.
    Das Telefon klingelte.
    »Ja!«
    »Frau Battin. Könnten Sie heute in der Schule vorbeikommen? So gegen vierzehn Uhr. Wäre Ihnen das recht?«
    »Ja, sehr gerne. Sie sind sehr

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