Drei Minuten mit der Wirklichkeit
mich?«
Tränen traten ihr in die Augen. »Ja«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Verstehst du, was ich sage? Du hast dich geirrt. Dieser Mann ist gefährlich. Steig ins nächste Flugzeug und komm zurück. Denk an die Staatsoper. An all die Arbeit, die hier auf dich wartet. Willst du das alles hinschmeißen? Wegen diesem Verrückten?«
»Markus, mein Gott, so lass sie doch erst einmal …«
Sie knallte den Hörer auf die Gabel, kauerte sich in ihrer Kabine auf den kleinen Holzschemel und verbarg das Gesicht in den Händen. Ihr Kopf drohte zu platzen. Plötzlich hatte sie wieder Angst, unsägliche Angst. Sie wusste nicht genau, wovor, vor dieser Stadt, vor ihrer Einsamkeit, ihrer Rat- und Hilflosigkeit. Wo war er bloß? Was sollte sie denn noch tun, um ihn endlich sehen zu dürfen, und sei es nur ein einziges Mal, eine einzige Minute, in der sie sein Gesicht sehen und aus seinem Mund die Worte hören konnte, die sie hören musste, um von ihm Abschied nehmen zu können: ich will dich nicht mehr sehen. Wenigstens das musste er ihr sagen, ihr ins Gesicht sagen. Ich will dich nicht mehr sehen, weil ich dich nicht liebe. Dann würde sie gehen, in ihr altes Leben zurückkehren und irgendwie damit fertig werden. Sie wusste nicht, wie, aber irgendwie würde es gehen. Aber sie musste ihn finden.
Plötzlich klingelte der Telefonapparat über ihr. Sie starrte fassungslos auf das Gerät. Die Nummer, dachte sie erschrocken. Er kann die Nummer zurückverfolgen. Ein unbändiger Hass auf ihren Vater stieg in ihr hoch. Woher kam das nur so plötzlich? Was geschah mit ihr? Diese Kontrolle, die er über sie ausübte. War das schon immer so gewesen? Warum sagte er ihr nicht die Wahrheit, was sich zwischen ihm und Damián abgespielt hatte? Irgendetwas verbarg er ihr. Damián gefährlich? Niemals. Sie hob den Hörer kurz ab und legte sofort wieder auf. Dann stürmte sie aus der Kabine, bezahlte rasch und verließ den Telefonladen.
Sie ging die Avenida Corrientes hinauf. Es war fast zwei Uhr morgens, die Zahl der Passanten hatte sich merklich verringert, und die wenigen Gestalten, die sich noch auf der Straße herumtrieben, wirkten nicht sehr Vertrauen einflößend. Kurz entschlossen hielt sie ein Taxi an, sprang hinein und reichte dem Fahrer die Visitenkarte mit ihrer Adresse.
Im Fahrstuhl ihres Hotels traf sie auf eine gleichfalls spät heimkehrende Amerikanerin. Die Frau war gesprächig, und so unterhielten sie sich noch fünf Minuten im Flur. Giulietta erzählte, sie sei zu Besuch hier. Die Amerikanerin war wegen eines Kongresses in der Stadt. Morgen flog sie schon in die USA zurück. Sie tauschten ein paar Eindrücke aus und verabschiedeten sich dann.
»It was nice talking to you«, sagte die Frau und gab ihr die Hand. »Enjoy your stay.«
»Danke. Guten Flug für Sie. Und ach, dürfte ich Sie etwas fragen?«
»Aber bitte.«
»Sprechen Sie Spanisch?«
»Ja. Sicher.«
»Könnten Sie mir sagen, was
loco
bedeutet.«
Sie lachte. »Klar. Das ist ein wichtiges Wort hier. Es bedeutet verrückt.
Crazy
.«
Giulietta schaute sie schweigend an.
»War das alles?«
»Ja. Danke. Es tut mir Leid. So eine dumme Frage, nicht wahr?«
»Es gibt keine dummen Fragen. Sie sehen bestürzt aus. Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt?«
»Nein, nein. Also. Gute Nacht und gute Heimreise.«
»Alles Gute.«
Sie ging langsam zu ihrem Zimmer, drückte kraftlos die Klinke herunter, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich in der Dunkelheit dagegen. Noch immer durchschnitt vereinzelt ein Hupgeräusch die Nacht, aber jetzt, gegen halb drei schließlich, schien diese Stadt allmählich Ruhe zu finden. Sie ging ans Fenster, öffnete die beiden Flügel und ließ Luft ins Zimmer herein. Plötzlich beneidete sie die Amerikanerin, die morgen von hier wegfliegen würde.
Dann setzte sie sich auf die Bettkante, starrte in die Dunkelheit und wartete, dass etwas geschehen möge. Aber nichts geschah. Nur das Pochen ihrer Schläfen wurde lauter und lauter. Loco. Loco. Loco.
5
S í?«
»Señor Ortmann?«
»Sí? Quién es?«
»Darf ich Deutsch sprechen?«
Pause.
»Ja bitte. Wer spricht dort?«
Korrektes Hochdeutsch. Die Stimme verriet Misstrauen.
»Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Giulietta Battin. Aus Berlin.«
Pause.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie behellige. Es geht um Damián Alsina, einen ehemaligen Schüler von Ihnen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht wissen, wo ich ihn erreichen
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