Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Weibsbild. Hör dir mal die Texte an. In acht von zehn Tangos sitzt der Mann besoffen in der Kneipe und heult seiner Frau hinterher. Kein besonders überzeugendes Bild vom alles kontrollierenden Macho, oder? In den dreißiger Jahren schrieb ein Typ einen Hetzartikel über den Tango, worin das schon genau zum Ausdruck kommt. Und warum wird Tango ausgerechnet in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wieder belebt? Keine Idee?«
Giulietta schüttelte fasziniert den Kopf. Was Lindsey da zusammenspann, klang zugleich völlig absurd und irgendwie interessant.
»Wegen des Feminismus natürlich. Plötzlich ist die Frau wieder rar geworden. Sie gewinnt gegen Ende des Jahrhunderts im Geschlechterkrieg endlich mal wieder kurz die Oberhand und kastriert das Männchen. Sie geht arbeiten, kriegt allein ihre Kinder, wehrt sich gegen unerwünschten Sex und so weiter. Und die Männer entdecken den Tango. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt. Ist doch komisch, vor allem, wenn man bedenkt, in welcher sozialen Schicht dieser Prozess jetzt abläuft. Um die Jahrhundertwende spielt sich dieses Drama in der Arbeiterklasse ab. Frauenmangel führt zur Verweiblichung des Mannes. Hundert Jahre später wiederholt sich das Gleiche in der herrschenden Klasse, der Feminismus domestiziert das Männchen. Wer tanzt denn heute in Europa und Amerika Tango? Ausgerechnet die Intellektuellen. Die Yuppies. Ist doch seltsam, oder? Aber ich wollte dir eigentlich keinen Vortrag halten. Nur das mit den Schwulen im Tango kann ich natürlich nicht so stehen lassen.«
Sie griff nach ihrem Weinglas. Giulietta war sprachlos. Aber der Gedanke hatte für sie etwas Bestechendes. »Aber bei Tango geht es doch um Verführung …«
»Quatsch!«, unterbrach Lindsey sie unwirsch. »Das sind bürgerliche Konzepte. Wo der Tango herkommt, da werden Frauen nicht verführt, sondern genommen. Und Schluss. Dieses Milieu kannst du dir gar nicht vorstellen. Das Gaucho-Milieu, und dann die Gauner und Zuhälter. Es ist eine totale Männerwelt, und wie alle Männerwelten latent schwul. Aber das darf natürlich nie sichtbar werden. Und wie kompensiert man diese unterdrückten Triebe? Man erniedrigt Frauen, nimmt sie sich einfach, um den Machokult zu bestätigen. In den dreißiger Jahren hat dieser Tango-Hasser in seinem Artikel sogar geschrieben, wer länger als zehn Minuten am Tag an eine Frau denke, sei schwul.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Natürlich verstehst du das nicht. Wir sind alle Bürgerkinder. Echte Männlichkeit ist im Bürgertum ebenso tabu wie echte Weiblichkeit. Warum hat Rodolfo Valentino in den Tangofilmen aus Hollywood eine Peitsche in der Hand?«
»Hat er das?«
»Na klar. Daher stammt doch der ganze stereotype Unsinn über Tango. Der Mann peitscht die Frau zu Boden. Aber nicht, weil sie seine Männlichkeit bedroht. Sondern weil sie sein Schwulsein entlarvt.«
Giulietta verstand überhaupt nichts mehr. Aber Lindseys wirre Ideen trafen einen Punkt. Die Atmosphäre in diesen Milongas, die sie bisher erlebt hatte, war tatsächlich ein wenig merkwürdig. Absolut nicht schwul, für ihre Begriffe. Aber durchaus schwülstig.
»Und darüber schreibst du?«, fragte sie.
»Klar. Von Damián habe ich übrigens viel über diese ganzen unterdrückten Facetten des Tangos gelernt.«
»Wieso unterdrückt?«
»Hier in Argentinien gibt es von allen Dingen zwei Versionen. Die offizielle, das ist immer eine freche, lächerliche Lüge, und die wahre, die keiner hören will. Im Tango ist das genauso. Es gibt die Legende vom Cowboy, vom Gaucho, der in die Stadt kommt und zum Compadrito mutiert. Das stimmt schon. Aber es fehlt etwas ganz Wichtiges. So wie in den Cowboyfilmen in Hollywood. Da kommt auch selten ein Schwarzer vor. Im Tango ist es ähnlich. Im Grunde ist es verrückt, aber es ist die Wahrheit. Der Ursprung des Tangos ist schwul und schwarz. Wenn du das einem Argentinier erzählst, dann bekommst du echte Schwierigkeiten. Aber Damián hat das auch interessiert. Es gab da einen tollen Zwischenfall vor ein paar Jahren im Almagro …«
»Du meinst diese seltsame Aufführung, wo Damián sich als Schwarzer verkleidet hat?«
»Ach, du weißt davon?«
»Ja, eine Frau in Berlin hat mir davon erzählt. Hast du das auch gesehen?«
»Es war sagenhaft.
Le tout
Buenos Aires an Silvester im Almagro. Hector will seinen neuen Wunderschüler vorführen, den er seit sechs Monaten mit seiner besten Tänzerin trainiert. Und Damián kommt mit schwarz gefärbtem Gesicht
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