Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Giulietta.
Die Kanadierin schaute sie irritiert an. »Wundervoll? Was findest du daran wundervoll?«
»Die Bilder. Zum Beispiel diese Stelle, wo jemand am Fluss niederkniet und sich aus Schlamm und Salz ein neues Herz zusammenkratzt. Das ist eindrucksvoll, irgendwie unheimlich und zugleich schön.«
Lindsey schaute sie mitleidig an. Giulietta fühlte sich verunsichert.
»Was schaust du denn so komisch?«
»Du hast überhaupt keine Ahnung von Argentinien, nicht wahr?«, sagte Lindsey leise.
»Was meinst du damit?«
»Du weißt überhaupt nicht, wo du dich hier befindest.«
Giulietta wurde innerlich steif. Wenn sie etwas nicht leiden konnte, dann diese überhebliche Rätselsprache. Diese Frau war auch eigenartig. Von einem Moment zum anderen wechselte sie völlig die Stimmung. Anstatt etwas zu sagen, griff sie endlich nach dem Heftchen, das Lindsey ihr noch immer hinhielt. Sie spürte, wie Lindsey flüchtig ihre Hand umfasste. Fingerspitzen fuhren zärtlich ihren Handballen entlang und verharrten kurz um die Spitze ihres Daumens gelegt. Sie zog irritiert ihre Hand zurück.
»Du weißt, wo ich ihn finden könnte, nicht wahr?«
Lindsey schaute sie herausfordernd an. Dann nickte sie kurz und zuckte sogleich mit den Schultern.
»Und?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde ein wenig abweisend. Sie setzte sich in den Schneidersitz und angelte eine neue Zigarette aus dem Päckchen. »Giulietta. Damián ist verrückt. Komplett verrückt.«
»Das mag sein. Aber ich muss ihn sprechen.«
»Liebe macht blind.«
»Hass macht noch blinder.«
»Was meinst du damit?«
»Damián. Warum hassen ihn alle so sehr? Es will mir nicht in den Kopf.«
»Weil er spinnt. Und weil er rücksichtslos ist. Er hat irgendein Problem und lässt es an seiner Umgebung aus. Ich kenne eure Geschichte nicht, aber die Tatsache, dass du um die halbe Welt gereist bist, um ihn zu suchen …«
Giuliettas Gesichtsausdruck ließ sie verstummen. Lindsey biss sich auf die Lippen, griff dann erneut nach Giuliettas Hand und drückte sie diesmal freundschaftlich. Doch Giulietta wollte diese Berührung nicht. Sie machte sich frei, winkelte ihre Knie an und blickte nervös zur Decke.
»Es tut mir Leid«, sagte Lindsey.
Giulietta schüttelte den Kopf und schaute ihr dann direkt ins Gesicht.
»Weißt du, wie das ist, wenn man plötzlich vor einem Menschen steht, von dem man alles zu wissen glaubt, ohne dass man auch nur ein Wort mit ihm gewechselt hat?«
Lindsey senkte ihren Blick und spielte mit ihrer Zigarette. Aber Giulietta redete einfach weiter.
»Kennst du das, wenn du jemandem begegnest, und mit einem Schlag wird es still in dir? Ich meine ruhig, ganz ruhig?«
Lindsey schaute stur in den Aschenbecher. Einen Augenblick lang schwiegen sie nun beide. Die Kerze flackerte wieder. Der schrille Hupton eine Autoalarmanlage erklang einige Sekunden lang. Dann wurde es wieder still.
»Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal neben Damián in Berlin durch die Straßen gegangen bin. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe? Ich war gar nicht neben ihm. Ich war in ihm. Ich habe eine Nacht mit ihm verbracht und bin in seiner Haut erwacht. Und jetzt erzählt mir jeder, den ich treffe, der Mann, der dieses Gefühl in mir ausgelöst hat, sei verrückt. Das mag ja sein. Aber dann bin ich es auch. Verstehst du das?«
Lindsey goss Wein nach und schob Giulietta ihr Glas hin. Dann erhob sie sich und begann in dem Stapel Videokassetten herumzusuchen. Als sie das gewünschte Band gefunden hatte, schaltete sie das Fernsehgerät ein und spulte das Band vor. Tanzpaare zappelten in Schwarzweiß über den Bildschirm. Plötzlich schaltete Lindsey auf normale Geschwindigkeit und drückte die Pausentaste.
»Das ist eine Aufnahme von 1995«, sagte Lindsey. »Schau dir mal an, was er da treibt.«
Im ersten Augenblick war es ein Schock. Er sah aus wie auf dem Foto, das sie an der Pinnwand der Confitería Ideal gesehen hatte. Er trug das Haar bereits lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Seine Bewegungen waren schon sehr präzise, aber über allem, was er tat, schwebte eine Hauch von Jugend und Leichtsinn, etwas Spielerisches, das umso mehr zur Geltung kam, als Nieves bereits die Frau war, die sie auch heute war.
Giulietta konnte auf einmal ermessen, was es für sie bedeutet haben musste, mit diesem begabten Kindskopf zu tanzen. Und bei allem Talent musste dieser Kindskopf sie mit seinen verrückten Ideen bis zur Weißglut gereizt haben. Giulietta hatte mittlerweile genug Tango
Weitere Kostenlose Bücher