Drei Minuten mit der Wirklichkeit
herum. Damián hat Hector um die Hälfte unterboten. Er überzeugte den Produzenten, er könne die Show größtenteils mit Tänzern aus Berlin bestücken. Damián würde einfach zwei Monate früher kommen und die Leute trainieren. Die Tänzer müssten dafür eben ein wenig Kursgebühr bezahlen, das heißt, Damián verdiente sogar doppelt.«
»Und das hat funktioniert?«
»Klar. Nach Kursen mit Damián lecken sich die Leute in Europa die Finger. Und mit ihm aufzutreten, ist für Amateure erst recht eine große Sache. Der Produzent fand diesen Vorschlag genial, denn das ganze Projekt wurde dadurch erheblich billiger. Nieves ging nach Brasilien, Damián nach Berlin, um Tänzer zu finden und zu proben. Europäische Tangotänzer auf einer Bühne mit Damián! Das war natürlich kompletter Schwachsinn.
Ridicule
.«
Das Gespräch mit Lutz fiel ihr wieder ein. Hatte er nicht eine andere Erklärung dafür gehabt, dass die Show ursprünglich mit Tänzern aus Berlin aufgeführt werden sollte?
»Aber Nieves kam am Ende doch auch nach Berlin«, entgegnete Giulietta.
Lindsey schlug nur viel sagend die Augen nieder und warf ihr ein Küsschen zu. »Wundert dich das?« Sie schnippte mit den Fingern.
Giulietta ignorierte die Ironie und erwiderte: »Ein Tänzer aus Berlin hat mir erzählt, Damián habe deshalb europäische Tänzer genommen, weil es in dem Stück auch um Homosexualität ging.«
»Ach ja?«
»Angeblich würde kein Argentinier so etwas tanzen wollen.«
»Das ist ja eine interessante Theorie. Und warum ist das Stück dann hier schon x-mal getanzt worden?«
Giulietta zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe das ja nur gehört.«
Lindsey zog die Augenbrauen hoch. »Manche der größten Tango-Figuren waren schwul. Angefangen bei Carlos Gardel. Wieso hat der eigentlich nie geheiratet?«
Der Name dieses Sängers schien wirklich wichtig zu sein.
»Hat er das nicht?«
»Nein. Hat er nicht. Komisch, oder? Einer der größten Tango- und angeblich auch Weiberhelden des zwanzigsten Jahrhunderts, und nicht einmal eine Freundin.«
»Sein ganzes Leben lang nicht?«
»Er starb jung, wie es sich für einen Mythos gehört, auf der Höhe seines Ruhms bei einem Flugzeugunglück. Sein bester Freund hat fünfzig Jahre später auf seinem Sterbebett in einem Interview bekannt, dass Carlito es lieber mit Männern machte. Das war natürlich ein Schock für die Nation. Das Fernsehinterview wurde unterbrochen. Zwei Wochen später wurde die Sendung wiederholt, aber der alte Mann hatte offenbar nicht so ganz verstanden, was er denn nun sagen sollte, und wiederholte einfach das Gleiche noch einmal. Vor der dritten Wiederholung starb er dann leider. Aber vermutlich war das für alle das Beste. Dabei sieht ja ein Blinder, dass Tango eine durch und durch schwule Kulturform ist.«
Giulietta verschluckte sich fast. »Wie bitte?«
»Klar. Ursprünglich war es ohnehin ein reiner Männertanz. Wusstest du das nicht?«
»So?«
»Um 1880, als dieser Tanz entstand, herrschte in Buenos Aires totaler Frauenmangel. Die typische Situation bei Massenimmigration. Das führte natürlich zu einem riesigen Wettrennen um die Gunst der wenigen verfügbaren Weibchen. Tango war eine Form dieses Wettrennens. Gute Tänzer haben mehr Chancen bei Frauen. Die besten Tänzer sind von Natur aus natürlich die Schwarzen, von denen es ja hier jede Menge gab. Die hatten ihre eigene Musik und Tänze. Candomblé. Das schimmert im Tango alles noch durch. Die weißen Männer konnten nicht konkurrieren. Außerdem wollten sie sich natürlich mit den Schwarzen nicht auf eine Stufe stellen. Also machten sie sich über sie lustig, karikierten sie. So entstand vermutlich die Ur-Form des Tango. Der Frauenmangel führte aber die Männer auch mehr zusammen. Sie warteten gemeinsam vor den Bordellen, bis sie an der Reihe waren, und wenn sie nicht soffen, rauchten, sich verprügelten oder von ihrer verlorenen Heimat jammerten, sangen und tanzten sie Tango zusammen. Warum, glaubst du, war Tango verboten? Doch nicht, weil der Tanz sexy war. Überhaupt nicht. Dann hätte man ja auch andere Tänze verbieten müssen. Kein Tanz hat jemals in der westlichen Welt solch eine leidenschaftliche Ablehnung und irrationale Ängste ausgelöst wie Tango. Und warum? Doch nicht, weil es dabei den Weibern an die Röcke geht.«
»Warum denn sonst?«
»Weil Tango die herkömmliche weiße Männerrolle unterminiert. Der Mann wird weiblich. Er hockt sich hin und jammert und schluchzt wie ein
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