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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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und Perücke auf die Bühne.«
    »Aber warum hat er das getan?«
    »Um seinen Standpunkt darzulegen; um Hector zu ärgern. Ich weiß es nicht genau.«
    »Was für einen Standpunkt?«
    »Ich weiß nicht viel über Damián, aber er ist keiner der üblichen Typen in diesem Milieu. Irgendetwas treibt ihn. Dieser Auftritt im Almagro war irre. Hör zu: um 1770 lebten in Argentinien um die zwanzig bis dreißig Prozent Schwarze, vor allem Sklaven. Sie waren überall und haben sich natürlich zum Teil mit der eingewanderten europäischen Bevölkerung durchmischt. Wenn du einen Argentinier fragst, wo die ganzen Schwarzen geblieben sind, dann bekommst du immer die gleiche Antwort: die sind alle nach Uruguay.«
    Sie zog die Mundwinkel herunter, um die Idiotie dieses Gedankens mimisch zu unterstreichen.
    »Das muss man sich mal vorstellen: so um 1850 steigen die alle auf ein Schiffchen und schippern nach Montevideo hinüber, oder wie? Das ist natürlich Quatsch. Die meisten wurden auf Plantagen und in Kriegen gegen die Ureinwohner oder Nachbarländer verschlissen. Aber natürlich ist der jahrhundertelange Kontakt noch sichtbar. Schau dir die Gesichter auf den Straßen hier an. Das deutlichste Zeichen ist, dass
Negro
hier eine Beleidigung ist, es sei denn, man nennt sich unter Freunden scherzhaft so. Argentinier wollen Europäer sein, und die meisten sind es auch irgendwo. Aber dieses Land ist nicht europäisch. Die Kultur ist voll von den Spuren einer ganz anderen Vergangenheit, die systematisch verdrängt wird. Im Tango ist diese ganze Ambivalenz gegenwärtig. Man will ihn männlich, weiß, urban, modern: bürgerlich. Aber die älteste überlieferte Zeichnung eines Tango tanzenden Paares zeigt zwei Schwarze. Das Wort selbst kommt wohl aus Äthiopien. Tangú, was einen bestimmten Rhythmus bezeichnet, der im Candomblé vorkommt.«
    »Und wieso sollte das für Hector ein Problem sein?«
    »Für Hector ist alles ein Problem, was an sein Image rührt. Du hast ihn ja gesehen. Hast du bemerkt, wie indianisch er aussieht?«
    Hectors Äußeres war ihr durchaus aufgefallen. Sein Körperbau war klein und gedrungen, sein Kopf indessen fast ein wenig zu groß. Er hatte buschige Augenbrauen und tief liegende, eng an der Nasenwurzel liegende Augen. Seine Hautfarbe war schwer zu bestimmen, ein wenig wie die von Zigeunern. »Nun ja, besonders hübsch ist er nicht, aber wenn du mich fragst, dann war er heute Abend der schönste Mann im Lokal.«
    »Sicher. Das macht sein Tanz. Hector ist ein Genie. Aber vergiss nicht, er kommt von ganz unten, aus diesem diffusen Gürtel um Buenos Aires herum, wo sich alles miteinander vermischt und wo man normalerweise keine Chance bekommt, ins Zentrum vorzustoßen. Er hat es geschafft. Durch Tango. Aber er ist und bleibt ein
morocho
, ein Dunkelhäutiger. Er unterrichtet in der ganzen Welt, in New York. Tokio. Was weiß ich. Aber dennoch. Soviel ich weiß, kann er nicht einmal lesen und schreiben. Aufsteiger aus den Slums werden nicht immer Rassisten, aber sie wollen nicht unbedingt an ihre armselige Herkunft erinnert werden. Sie wollen Weiße sein, Europäer, so wie Michael Jackson mit seinen bescheuerten Nasenoperationen …«
    »Und Damiáns Auftritt hat Hector beleidigt.«
    »Allerdings. Er hat Damián danach nie wieder unterrichtet.«
    »Aber warum hat Damián das getan?«
    »Das versuche ich dir ja schon die ganze Zeit klar zu machen. Damián spinnt. Er provoziert alle, die mit ihm in Kontakt kommen. Vielleicht hatten sie eine Meinungsverschiedenheit über Stilfragen. Und Damián hat sich eine originelle Form einfallen lassen, Hector bloßzustellen. Jeder wusste, dass Damián bei ihm trainierte. Das war eine kleine Sensation, er tanzte gerade mal zwei Jahre und hatte plötzlich Nieves zur Partnerin.«
    »Er ist wohl sehr begabt.«
    »Du hast ihn ja in Berlin gesehen. Wie war die Show eigentlich?«
    »Großartig«, sagte Giulietta und griff nach dem Päckchen Zigaretten auf dem Tisch. »Darf ich?«

14
    S ie zündete sich umständlich eine Zigarette an und machte ein paar Züge, ohne zu inhalieren.
    »Damián hat die Aufführung komplett ruiniert und Nieves bis auf die Knochen blamiert.« Sie schilderte den letzten Akt der Show, die ausgetauschte Musik, das peinliche Ende. Lindsey war überhaupt nicht erstaunt.
    »Siehst du. Immer wieder solches Zeug. Daher hat er ja auch seinen Spitznamen.
El loco
. Welche Musik war es denn?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Giulietta und drückte die Zigarette wieder aus.

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