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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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»Es war ein Lied, ein sehr ergreifendes Lied, von einer Frau gesungen. Ich erinnere mich nur an ein Wort im Refrain, das immer wieder vorkam: Renaceré.«
    Lindsey stand auf und zog einen Schuhkarton unter dem Fernsehgerät hervor. Dann war kurz das klappernde Geräusch von gegeneinander schlagenden CD -Gehäusen zu hören. »Hier. Es ist das erste Stück.
Preludio para el año 3001.
«
    Giulietta betrachtete das Bild auf der CD , eine Frau in schwarzem Tüll mit über dem Kopf verschränkten Armen auf einem rot gepolsterten Barocksessel. Warum war diese Tangowelt nur so ordinär?
    Lindsey hatte mittlerweile die CD aufgelegt, und die Musik begann. Giulietta legte das Heftchen zur Seite und lauschte. »Renaceré en Buenos Aires …« begann es. Die Melodie war so eindringlich, dass Giulietta auch ohne die Erinnerung an jenen letzten Abend in Berlin davon ergriffen gewesen wäre. Doch die Verbindung von beidem machte das Zuhören jetzt unerträglich. Nach dem ersten Refrain, diesem schaurigen, verzweifelt-hoffnungsvollen Aufschrei »Renaceré«, erhob sie sich und schaltete die Musik ab.
    Lindsey schaute sie verwundert an, sagte aber nichts.
    Giulietta trank einen Schluck Wein. »Was heißt eigentlich: ›Renaceré‹?«, fragte sie dann.
    »Ich werde wieder geboren«, antwortete Lindsey.
    »Und wer spricht da?«
    »Horacio Ferrer. Ein Tango-Poet. Aber das Lied handelt nur scheinbar von Tango.«
    »So. Und wovon handelt es wirklich?«
    Anstatt zu antworten, nahm Lindsey ihr das Heftchen aus der Hand und hielt es neben die Kerze. Dann begann sie zu lesen.
    Wieder geboren in Buenos Aires,
an einem Juninachmittag,
mit dieser gewaltigen Lust zu lieben und zu leben;
werde ich unweigerlich wieder geboren,
im Jahre 3001, an irgendeinem Herbstsonntag
    an der Plaza San Martin.
     
    Streunende Hunde werden meinen Schatten anbellen.
Mit meinem bescheidenen Gepäck kehre ich
aus dem Jenseits zurück.
Und knie nieder an meinem schmutzigen
und schönenRio de la Plata
und kratze mir aus Schlamm und Salz ein
neues unermüdliches Herz zusammen.
    Sie schaute vom Text auf, aber Giulietta blickte versonnen in die Flamme der Kerze und hörte zu. Lindsey fuhr mit ihrer improvisierten Übersetzung ins Französische fort:
    Drei Schuhputzer, drei Clowns und
drei Zauberer werden da sein,
meine ewigen Kumpane, und sie werden rufen:
Nur Mut, Ché!
Werde geboren! Los, Junge, mach’ schon, Bruder,
es ist ein hartes Geschäft, aber eine gute Sache,
    zu sterben und wiederzukehren.
     
    Renaceré, renaceré, renaceré …
Ich werde wieder geboren,
und eine gewaltige, außerirdische Stimme wird mir
jene uralte und schmerzvolle Kraft
des Glaubens verleihen
um zurückzukehren, zu glauben, zu kämpfen.
    Hinter dem Ohr werde ich eine Nelke
von einem anderen Planeten tragen,
denn selbst wenn niemand jemals wieder geboren
wurde, ich kann es!
Mein Buenos Aires, dreißigstes Jahrhundert,
wirst schon sehen.
     
    Renaceré, renaceré, renaceré …
    Lindsey machte ein Pause. Giulietta hatte die Augen geschlossen. Sie war nun doch wieder in Berlin, im Theater in den Hackeschen Höfen. Warum hatte Damián dieses Lied gewählt, um Nieves zu blamieren? An jenem Abend war alles Mögliche geschehen, aber keine Wiedergeburt. Im Gegenteil. Damián hatte innerhalb von fünf Minuten die Arbeit von drei Monaten vernichtet. Dann öffnete sie die Augen wieder. »Ist das Lied zu Ende?«, fragte sie.
    Lindsey schüttelte den Kopf, atmete durch und las weiter.
    Wieder geboren aus den Dingen, die ich so sehr liebte,
und die Hausgeister werden flüstern: er ist zurück …
ich werde die Erinnerung
Deiner schweigenden Augen küssen,
um das halb fertige Gedicht zu Ende zu schreiben.
     
    Aus dem Obst eines geschäftigen Marktes
werde ich auferstehen,
aus dem schmutzigen Nachtlied eines
romantischen Cafés,
aus dem eisernen Untergrund der U-Bahn-Strecke
Plaza de Mayo – Saturn,
aus einem Arbeiteraufstand im Süden
kehre ich zurück.
    Du wirst schon sehen, im Jahr 3001
komme ich wieder, mit den Jungs und Mädchen,
die es niemals gab und geben wird,
und wir werden die Erde segnen,
unsere Erde, und – das schwöre ich Dir –
wir werden in Buenos Aires neu beginnen.
     
    Renaceré, renaceré, renaceré …
    Lindsey ließ ihre Hand sinken. Es war völlig still im Zimmer. Ganz entfernt hörte man das Rauschen der Autobahn. Eine der Kerzen knisterte kurz, die Flamme zuckte zweimal und richtete sich dann wieder zu ihrer vollen Größe auf.
    »Das ist wundervoll«, flüsterte

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