Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Kleiderbündeln eine Weinflasche aus und fand irgendwo auf dem Schreibtisch einen Korkenzieher.
»Für meine Arbeit. Über
milongas
. Ich dokumentiere die alten
milongas
, weil es die in zehn Jahren nicht mehr geben wird.«
Giulietta griff nach einer der beiden Kerzen und beleuchtete die Fotos damit. Es waren fast nur tanzende Paare darauf zu sehen, vornehmlich alte Menschen in enger Umarmung, den Blick ins Nichts gerichtet. Lindsey trat neben sie. Giulietta roch ihr Parfüm und die Ausdünstungen von Zigarettenrauch.
»Ich fotografiere nur die Alten. Die Gespenster.« Und dann, nach einer Pause, fügte sie hinzu: »Damián wirst du hier nicht finden.«
Giulietta fuhr herum und starrte sie an. Aber Lindsey hielt ihrem Blick stand und sagte nur: »Du hattest etwas mit ihm, und deshalb bist du hier, nicht wahr?«
Giulietta schaute wieder auf die Fotos, sagte aber nichts.
»Geht mich ja auch nichts an. Sorry.«
Giulietta setzte sich wieder auf eins der Sitzkissen und stellte die Kerze auf den Tisch. Lindsey zog den Korken aus der Weinflasche, beugte sich zu ihr herunter und goss ohne zu fragen zwei Gläser voll. Ein Träger ihres Oberteils rutschte herunter, und der durchhängende Saum entblößte ihre Brüste. Giulietta senkte die Augen und blickte vor sich auf den Tisch.
»Sieht man mir schon an, dass ich ihn suche?«
»Dir nicht«, erwiderte Lindsey und grinste. »Aber Nieves.«
»Dir entgeht wirklich nichts, oder?«
»Kommt darauf an. Aber wenn eine der besten Tangotänzerinnen aus Buenos Aires ein völlig unbekanntes Ballett-Mädchen aus Berlin mit Blicken durchbohrt, dann fällt mir das auf.«
»War es so deutlich?«
Lindsey fischte eine Zigarette aus der Schachtel und hielt die Spitze in die Kerzenflamme.
»Ich würde an deiner Stelle nicht in ihre Nähe kommen«, erwiderte sie. »Ich meine, ich weiß ja nicht, was zwischen euch war, aber die Tango-Welt ist so klein und durchschaubar, dass man nicht viel Fantasie braucht, um solche Zeichen zu lesen.«
»Wenn sie so klein ist, warum weiß dann kein Mensch, wo Damián wohnt?«
Lindsey zuckte mit den Schultern. »Als er und Nieves sich im Frühjahr getrennt haben, war das wochenlang Stadtgespräch. Bis dahin haben sie zusammengewohnt. Dann kam diese Sache mit Berlin. Damián hat den Auftrag durch eine üble Intrige bekommen, hinter Hectors Rücken. Ich dachte, seine Trennung von Nieves hing auch damit zusammen, denn sie ist gut mit Hector befreundet. Aber wenn ich dich so anschaue, verstehe ich so einiges. Wegen dir hat er also Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um nach Berlin zu kommen …«
»… was soll denn das heißen?«, unterbrach sie. »Nein, nein. Wir haben uns in Berlin kennen gelernt. Von was für einer Intrige sprichst du?«
Lindsey hob ihr Glas und prostete Giulietta zu. »Sollten wir nicht erst einmal anstoßen? Chin chin.« Giulietta erwiderte die Geste und trank. Als sie wieder aufschaute, spürte sie Lindseys Blick auf ihrem Dekolleté. Die Kanadierin schob ihr Kleid über ihre Beine hinauf und machte es sich auf dem Sitzkissen gemütlich.
»Damián und Nieves hatten für September und Oktober eigentlich schon Engagements in Brasilien zugesagt. Im März kam dieses Angebot aus Berlin. Damián interessierte das zunächst nicht. Also nahm Hector die Sache an. Du weißt, dass die beiden sich nicht besonders mögen?«
Giulietta nickte.
»Hector begann, eine Gruppe für Berlin zusammenzustellen. Doch als er Ende März den Vertrag unterschreiben wollte, zog der Produzent plötzlich sein Angebot zurück. Die Sache sei geplatzt. Zwei Wochen später sprach sich herum, dass Damián den Auftrag bekommen hatte. Er wollte plötzlich unbedingt dieses Engagement haben. Er hat den Produzenten so lange bearbeitet, bis dieser ihm den Job noch einmal anbot. Du kannst dir ja vorstellen, was da los war. Alle fanden das schäbig. Es war so schlimm, dass Damián überhaupt keine Tänzer für die Show fand. Er wurde regelrecht boykottiert. Und das heißt hier etwas, wo jede Menge arbeitslose Tänzer von der Hand in den Mund leben. Nieves hat ihm eine riesige Szene gemacht. Sie waren wohl schon getrennt oder dabei, sich zu trennen, was auch immer. Aber sie tanzten damals noch zusammen. Kein Mensch verstand, warum Damián plötzlich nach Berlin wollte. Brasilien war viel interessanter, auch finanziell. Und dann diese Bösartigkeit Hector gegenüber.«
Giulietta runzelte die Stirn.
»Woher weißt du das denn so genau?«
»Hier spricht sich alles
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