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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gesehen, um erkennen zu können, dass Damián laufend Dinge tat, die Nieves aus dem Konzept brachten. Sie tanzten einige Sequenzen tadellos, und plötzlich fügte Damián eine Bewegung ein, die den natürlichen Fluss der Bewegung unterbrach.
    »Woher hast du diese Aufnahme?«, fragte Giulietta.
    »Ich sammle alles, was ich kriegen kann. Das hier ist ein Mitschnitt einer Trainingsstunde. Es gibt hier Leute, die nichts anderes machen, als andere Profipaare auszuspionieren. Aber siehst du, was er da für ein Zeug macht. Warum macht er das?«
    Nieves stieß Damián soeben wütend von sich und lief zur Seite weg. Die Aufnahme war ohne Ton, was das Ganze noch unheimlicher machte. Dann gab es einen Schnitt, und plötzlich war die Sequenz noch einmal zu sehen. Diesmal mit Ton. Offenbar hatten die beiden sich in der Zwischenzeit irgendwie geeinigt, denn diesmal war Nieves auf Damiáns merkwürdigen Ausfallschritt vorbereitet und tanzte ihn souverän mit, auch wenn man ihrem Gesichtsausdruck anmerkte, dass sie mit diesem Stil ihre Schwierigkeiten hatte.
    Die Musik war rätselhaft. Hektisch. Schrill. Gehetzt. Wie die Tonspur einer Verfolgungsjagd in einem Film aus den siebziger Jahren.
    »Was ist das für eine Musik?«, fragte Giulietta.
    »Tres minutos con la realidad.«
    »Was heißt das?«
    »Drei Minuten mit der Wirklichkeit. Von Piazzolla.«
    »Seltsamer Titel.«
    »Ja. Genauso seltsam wie die Choreografie. Es wirkt einfach nicht wie Tango, findest du nicht?«, sagte Lindsey. »Warum an dieser Stelle ein
abanico
? Ich verstehe das einfach nicht. Niemand versteht es. Außer ihm selber, er spinnt einfach.«
    »Weißt du, wie diese Schritte heißen?«, fragte Giulietta.
    »Klar.«
    »Kannst du noch einmal zurückspulen?«
    »Zum Anfang?«
    »Ja.«
    Sie betrachteten den ganzen Mitschnitt, was fast zehn Minuten dauerte. Es gab laufend Unterbrechungen. Doch am Ende war eine Choreografie entstanden, auch wenn Nieves sie offenbar nicht mochte.
    »Es sind sieben Brüche«, sagte Giulietta schließlich.
    »Was meinst du damit?«
    »Spulst du noch mal zurück bitte?«
    Lindsey schaute sie verwundert an, aber Giuliettas Augen glänzten plötzlich vor Aufregung.
    »Hier. Warte. Das ist der erste Bruch. Siehst du das?«
    »Ja. Und?«, fragte Lindsey.
    »Was geschieht hier? Ich meine mit den Figuren. Welcher Schritt ist hier das Problem?«
    »Damián will einen
lapiz
einbauen. Das geht aber hier nicht so einfach. Nieves muss die Drehung verlangsamen, sonst kommt er nicht hinterher.«
    »Also ein L«, sagte Giulietta. »Er braucht ein L.«
    »Was sagst du da?«
    »Warte. Mach weiter.«
    Lindsey drückte die Starttaste. Die Bilder flimmerten vorüber. Die beiden sahen großartig aus. Damián begann eine komplizierte Drehung. Plötzlich blieb Nieves abrupt stehen und schrie ihn an. Dann stieß sie ihn von sich und lief zornig von ihm weg.
    »Hier. Was geschieht da?«
    Sie mussten auf Zeitlupe schalten, um den Schritt erkennen zu können.
    »Aha. Schau her. Eine
americana
. Ziemlich selten.«
    »Diese Folge heißt
americana

    »Ja.«
    »Warum will Nieves das hier nicht tanzen?«
    »Weil es zu viel ist. Kein Mensch baut in einen
molinete
eine
americana
ein. Warum macht er das bloß?«
    »Weil er ein A braucht.«
    »Sag mal, machst du dich über mich lustig? Ein L. Ein A. Was soll denn das.«
    Giulietta nahm ihr die Fernbedienung aus der Hand und drückte die Starttaste.
    »Mathematik«, sagte sie. »Du wirst gleich sehen. Es ist wirklich verrückt, aber ganz anders, als du glaubst. Schau! Da! Schon wieder ein Problem.«
    »Medialuna.«
    »Also M.«
    » LAM ?«
    »Wir sind noch nicht fertig.«
    Kurz darauf waren sie fertig. Giuliettas Gesicht war nun vor Aufregung voll roter Flecke. Lindsey starrte fassungslos auf den Zettel vor sich auf dem Tisch. Sieben Buchstaben, die wie von Geisterhand aus Damiáns Tango herausgefallen waren.
    LAMBARE
    »Was zum Teufel …«
    Giulietta spulte das Band zurück und schaute sich die Sequenz noch einmal an. Lindsey starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Sie schien die Brüche noch einmal zu kontrollieren, denn bisweilen schielte sie auf Giuliettas Zettel. Aber es stimmte. Was immer auf diesem Zettel stand: es waren exakt die Brüche in Damiáns Choreografie.
    Giulietta drückte die Pausentaste, und das Paar auf dem Bildschirm gefror. Lindsey konnte den Blick nicht von diesem flirrenden Bild auf der Mattscheibe nehmen, brachte jedoch kein Wort heraus.
    »Loco?«, fragte Giulietta.

15
    E s war halb drei

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