Drei Wunder (German Edition)
Schoß. »Aber das Kleid gehört dir. Ich sagte ›drei Zauberkleider‹, und ich halte mein Wort.«
Olivia nahm die Kleiderhülle, legte sie über ihren Arm und ging zur Tür.
»Olivia, warte«, rief Posey ihr nach.
Olivia drehte sich um. Posey wühlte in einer Sammlung von Einkaufstüten und streckte Olivia schließlich eine davon entgegen.
»Was ist das?«, fragte Olivia.
»Etwas anderes, was dir gehört«, sagte Posey geheimnisvoll.
Olivia öffnete die Tüte, griff hinein und hielt ein ihr vertrautes Stück Satinstoff in der Hand. Sie sah das Muster von Violets Secondhandkleid und bekam prompt wieder einen Kloß im Hals.
»Tut mir leid, dass ich es so lange behalten habe«, sagte Posey. »Ich wusste nicht, ob du es immer noch genäht haben wolltest oder nicht.«
»Schon in Ordnung«, sagte Olivia, und ihre Finger tasteten nach der immer noch aufgerissenen Naht. »Ich mag es so wie es ist.«
Posey nickte lächelnd und schlug das Journal auf dem Schreibtisch auf. Sie zog die Kappe eines Stiftes ab und kritzelte etwas auf eine der gelblichen Seiten.
»Danke, Posey«, sagte Olivia leise, als sie die Tür öffnete. »Für alles.« Sie trat hinaus in die helle Nachmittagssonne und ging nach Hause.
40
Am Montagmorgen starrte Olivia auf die blinkenden Ziffern ihres Weckers, die ersten Strahlen der Morgensonne fielen in schmalen Streifen durch die Fensterläden über ihre verknautschte Bettdecke.
Olivia hatte in der Nacht vergeblich versucht zu schlafen. Sie hatte sich im Bett gewälzt, Träume und Erinnerungen verjagt und die letzten Ereignisse und Gespräche immer wieder von allen Seiten betrachtet: die Modenschau, den Streit mit Violet, den Streit mit ihren Eltern und alles, was Posey gesagt hatte.
Als der Wecker dann schließlich eine Reihe kurzer Piepstöne von sich gab, schlug Olivia mit der Hand darauf. Sie hatte außerdem die Schritte ihrer Mutter im Flur gehört und gemerkt, dass Bridget auf dem Treppenabsatz stehen geblieben war. Das Gleiche hatte sie am Abend vorher getan, sie hatte vor Olivias Zimmer gestanden, ihr Schatten hatte sich in dem schmalen Lichtstreifen unter der Tür abgezeichnet.
Olivia hatte beide Male die Luft angehalten und auf das Klopfen gewartet, das nicht kam.
Sie hörte Mac in der Küche herumwirtschaften, Kaffee machen, die Kühlschranktür ging auf und zu. Sie wusste, sie musste irgendwann mit ihren Eltern reden, aber sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Wo sollte sie anfangen? Wo würden sie anfangen?
Sie legte einen Arm über ihre müden Augen, rot und geschwollen vom Schlafmangel und vom Weinen. Der Gedanke aufzustehen oder nur die Beine aus dem Bett zu schwingen und dabei zu wissen, dass sie Violet nie wiedersehen würde …
Violet.
Allein den Namen ihrer Schwester zu denken, schickte Wellen der Trauer durch ihren ganzen Körper, und es war, als ob sie selbst nicht mehr vollständig sei.
Wie sollte sie zur Schule gehen? Sie hatte schon genug Probleme gehabt, bevor die anderen sie überhaupt wahrgenommen hatten, und jetzt – nach all dem, was passiert war, wie sollte sie sich da wieder blicken lassen? Calla würde ihr nie verzeihen und hatte bestimmt allen erzählt, was Olivia getan hatte. Olivia vermutete, dass die ganze Schule inzwischen schon über sie und Soren Bescheid wusste.
Olivias Herz zog sich zusammen. In ihrer Trauer um Violet hatte sie Soren fast vergessen.
Wenn es stimmte, was Posey gesagt hatte, dann war ihr zweiter Wunsch nicht erfüllt worden. Soren hatte sie die ganze Zeit von sich aus gemocht. Aber was bedeutete das jetzt? Was konnte es bedeuten, jetzt, wo Calla und wahrscheinlich auch der Rest der Golden Gate von ihnen wusste?
Eine frische Morgenbrise wehte zum Fenster herein. Olivia stemmte sich mit bleischweren Armen seitlich aus dem Bett. Jede Bewegung fühlte sich roboterhaft und enorm anstrengend an. Sie lief langsam zu der kleinen Verbindungstür, zog sie auf und machte ein paar zögernde Schritte ins Nebenzimmer. Sie hoffte beinahe, Violet am Fensterbrett wartend vorzufinden, wie an diesem ersten Morgen vor vielen Wochen. Sie schloss die Augen und versuchte, ihre Schwester im Raum zu spüren, ihr Shampoo zu riechen oder ihr unverkennbares Lachen zu hören. Aber alles, was sie roch, war abgestandene Luft, und alles, was sie hörte, war bedrückende Stille.
Sie ging zuerst zu einem Fenster, dann zum nächsten und riss sie auf, ließ die kühle Morgenluft in den Raum.
Zumindest konnte man jetzt besser atmen.
Zurück in ihrem
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