Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
schlafenden Straßen Wiens und fühlt sich das erste Mal seit langer Zeit – ja, wie fühlt sie sich denn? Schwebend, leicht, erstaunt. Dieser Abend hat es wirklich fertiggebracht, sie von ihren Sorgen und ihren Fragen wegzubringen. Und ihre Erinnerungen,die ja immer da sind und die diese Begegnung natürlich auch geweckt hat, der alte Schmerz – irgendwie ist er nur wie der dunkle Punkt, der das Weiß einer Wand besonders hervortreten lässt.
Der Tropfen Wermut, den man braucht, damit das Getränk nicht schal wird ...
Ich spiele in einer Woche auf Reinhardts Bühne vor, sagt sie immer wieder leise vor sich hin. Einfach so.
Der nächtliche Wind kühlt ihre Stirn. Die Häuserfassaden gleiten vorüber, schmiedeeiserne Balkone, geschmückte Giebel.
Sie muss sich ein Programm erarbeiten. Die Sulamith, ihre erste Rolle, die sie in Berlin gespielt hat? Das Mädchen, das aus dem Brunnen gerettet wird vom Helden des Stücks? Sie weiß noch nicht. Oder die Julia weiterführen. Und dann irgendetwas finden, wo man zeigen kann, dass man auch in solchen artistischen und graziösen Spielereien zu Hause sein könnte wie in der, die sie heute gesehen hat.
Irgendein Instinkt rät ihr davon ab, Felice davon zu erzählen – sie hat das Gefühl, die würde es nicht gern sehen, dass sie ans Haus in der Josefstadt geht.
»Fesch wohnen ’s hier, gnä’ Fräulein!«, sagt der Kutscher, als sie am Palais halten lässt und ihn bezahlt. Er zieht den Hut.
22
Sie ist noch fleißiger als sonst in dieser Woche.
Was Vorgänge auf dem Theater angeht, hat sie ein untrügliches Gedächtnis. Vor ihrem großen Spiegel versucht sie sich darin, die Bewegungen der Goldoni-Spieler nachzuahmen, ihr akrobatisches Geschick, ihre Grazie und ihre Gebärdensprache, die es unnötig macht, dass man sieht, was in ihren Gesichtern vorgeht.
Jetzt ist sie froh darüber, dass ihr Felice so unerbittlich »Kunststücke« der Körperbeherrschung abverlangt hat; das fließende Setzen und Aufstehen, der Gang über den Stuhl.
Sie probiert die eleganten und elastischen Sprünge des Truffaldino, die hochfahrende, auftrumpfende Ritterlichkeit der als Mann verkleideten Beatrice, versucht sich sogar mit einem kurzen Besenstiel im Scheinfechten, wobei sie einsieht, dass man so etwas nur mit einem Lehrer erarbeiten kann.
Aber sie will auf alle Fälle bei dem Vorsprechen noch etwas anbieten, was dieser neuen Art des Theaterspielens ähnlich ist, und sucht in den Stücken, die ihre kleine Bibliothek ausmachen nach etwas Entsprechendem.
Ihr Shakespeare kommt ihr zu Hilfe. Der »Sommernachtstraum«, dieses Feen- und Elfenstück, das in Griechenland spielt, enthält eine Figur, die man bestimmt auf eine solche Weise anlegen kann. Das ist der Puck. Puck ist ein Kobold, der in den Diensten der Elfenfürsten Oberon und Titania steht, eine Art von zotteligem Waldgeist. In die wilden Wälder vor der Stadt Athen, wo die Elfen hausen, flüchten sich zwei Liebespaare, um ihren tyran nischen Vätern zu entgehen. Die vier jungen Leute sollen mit dem jeweils anderen, dem ungeliebten Partner verheiratet werden. Der Kobold Puck missversteht aber einen Auftrag desElfenkönigs und träufelt einen Zaubersaft, der Liebe erweckt, auf die Augen der falschen Person. Ein wildes Durcheinander ist die Folge. Er stiftet auf ähnliche Weise Chaos wie Truffaldino in der Goldoni-Komödie.
Leonie versucht, sich vorzustellen, wie »der Meister« (um Goldstein zu zitieren) das wohl heute inszenieren würde. Ob er ähnliche Theatermittel einsetzen würde wie beim »Diener zweier Herren«? Wie könnte das wohl aussehen ...
Den Text lernt sie schnell, so etwas bereitet ihr keine Mühe.
Bei einem Gang durch die Stadt entdeckt sie in einem Spielwarengeschäft Gegenstände, mit denen sie seit ihrer Kindheit vertraut ist: Reifen, die mit einem Stöckchen durch die Straße getrieben werden – und Stelzen.
Stelzenlaufen fand sie herrlich, sie hat es mit anderen Mädchen im Hinterhof ihres damaligen Wohnhauses betrieben (lange bevor sie nach Neukölln ziehen mussten), bis sie Muskelkater in den Waden hatte. Im Geschäft sieht sie, dass es sogar zwei Sorten von Stelzen gibt: solche, wie sie sie als Kind hatte, zwei hohe Stöcke mit einer kleinen Fußleiste auf einem Drittel der Höhe, und solche, die man sich mit einem Lederband direkt am Fuß festschnallt und läuft, ohne seinen Gang mit den Händen zu lenken. Was viel schwerer ist. Die nimmt sie. Gleich zwei Paar in unterschiedlichen Größen. Damit
Weitere Kostenlose Bücher