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Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2

Titel: Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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noch eine Weile das qualvolle Pulsieren des Bluts in der Verletzung, den Kampf, mit dem das Leben zurückdrängt in das verletzte Gewebe; das will nur in Ruhe gelassen werden, aber das gibt’s nicht, es geht weiter. Dann klopft und pocht die Hand noch eine Weile, aber bald tritt wieder Frieden ein – bis ich einen neuen Impuls losschicke, kurz die Faust balle oder eine Geste mit Daumen und Zeigefinger mache.
    Zwischendurch weine ich auch hin und wieder. Das kann ich überhaupt nicht kontrollieren. Es fängt einfach an, so wie im Sommer ein plötzlicher Regenguss aus heiterem Himmel. Die Schleusen sind offen, ich schluchze vor mich hin und habe Probleme, wieder aufzuhören. Ich empfinde dies stille, unaufgeregte Weinen so, als würde etwas aus mir herausgeschwemmt. Als würde es mich leer machen – und ich frage mich, wie das denn angeht, noch leerer, als ich mich schon fühle?
    Isabelle kommt nur zu mir, um den Verband zu erneuern. Gastonsehe ich zu den Mahlzeiten. Wir reden nur das Nötigste. Niemand bedrängt mich. Dafür bin ich dankbar.
    Die Theaterkulissen der Wolken bäumen sich mal bläulich und drohend auf und schieben sich übereinander, wie Urwelttiere, die sich bekämpfen, dann wieder sind sie weiß wie große Kühe und gleiten sanft am Bühnenportal meines Fensters vorüber oder sie jagen in Fetzen über den Himmel wie alte zerrissene Lumpen, gepeitscht von Winden. Dann ist alles grau in grau, ein feiner Nieselregen hüllt die Welt in Schleier und lässt den Hof da unten und das Stück Dach, das ich sehen kann, wie Silber glänzen.
    Eines Morgens dann scheint zum ersten Mal die Sonne, seit ich in Port Bou aus dem Zug gestiegen bin, eine blasse, schläfrig wirkende helle Scheibe, und mein Stück Himmel hat eine Farbe wie ausgeblichener Lavendel, der in einem Wäscheschrank liegt, so wie es bei mir zu Hause war, als ich noch ein Zuhause hatte ... Ich meine das alte Zuhause bei meinem Vater in Berlin-Neukölln, bei dem Mann, der sich von mir abgewendet hat, als ich mich neu entdeckte als Jüdin, denn er wollte von diesem Teil unserer Vergangenheit nichts wissen. Er wollte Deutsch sein. Deutsch bis hin zum Verbrechen.
    Weg! Weg mit diesen Erinnerungen! Der Felsbrocken, der mir auf der Seele liegt, ist schon schwer genug, ich muss nicht noch mehr auf diesen Berg türmen.
    Ich springe auf und zerre meinen Mantel aus dem Schrank – der Koffer steht immer noch geöffnet, aber unausgepackt da - neben – und laufe die Treppe hinunter. Aufs Frühstück habe ich keine Lust. Ich will ins Freie heute.
    Als ich auf den Hof hinaustrete, merke ich, dass die Sonne mir etwas vorgelogen hat: Die Luft ist eisig, kälter als an den Tagen zuvor, und obgleich ich keine einzige Wolke sehe, weht ein scharfer Wind. Egal. Ich schlage den Kragen hoch, stecke die gesunde Hand in die Manteltasche und stiefele los.

8
    Aber dann, als sie am Ausgang angekommen ist, wo die Straße nach Cerbère beginnt, bleibt sie stehen. Fühlt sich wie ein verlorenes Schaf.
    Da sind die Berge, da sind die Wolken, und da ist ihre Hand, und die tut weh. Der Wind schneidet wie ein Messer. Zögernd setzt sie ihre Füße vor das Tor. Am liebsten würde sie wieder umkehren. Ihr »Anfall« von Unternehmungslust ist vorüber.
    »Wohin möchtest du, Leonie?«
    Isabelle ist auf den Hof hinausgetreten, sie hat ihren Mantel lose über der Schulter.
    »Spazieren, aber es ist so kalt«, erwidert Leonie.
    »Und du bist nicht zweckmäßig bekleidet!« Isabelle schüttelt den Kopf. »Hast du nichts anderes? Ich dachte immer, in Berlin ist es viel kälter als hier!«
    In Berlin hat sie eben ihr dünnes Mäntelchen durch die Straßen schleppen müssen.
    Isabelle mustert sie nachdenklich. »Weißt du was?«, sagt sie. »Ich mach dir einen Vorschlag. Ich fahre dich nach Cerbère und du gehst am Meer spazieren.«
    Das hört sich beinah an wie ein Befehl. Aber warum eigentlich nicht? In den paar Tagen, in denen Leonie vor einem guten halben Jahr hier war und dann so schnell wieder abreiste, als werde Isabelles Golem sonst nicht rechtzeitig fertig, da hat sie das Meer nur von fern gesehen.
    »Ich wusste überhaupt nicht, dass du Auto fährst!«, sagt sie. Isabelle verzieht die Lippen zu einem Lächeln. »Das wirst du
    ja sehen!«, verkündet sie und geht ohne Weiteres zum Wagen, der
    auf dem Hof bereitsteht. »Komm, steig ein!«
    Einen Augenblick geht Leonie die Überlegung durch den Sinn, ob Personen, die zu »Anfällen« neigen, wie ihre Verwandte, überhaupt ein

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